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Zukunftssichere Marktkommunikation im Stromsektor
„Die Weiterentwicklung der Marktkommunikation im Energiesektor steht vor weitreichenden Herausforderungen zur Beherrschung der Dezentralisierung und der Digitalisierung des Energiesektors im Einklang mit den EU-weiten und nationalen rechtlichen Rahmenbedingungen.”
Ohne Strom keine Daten und ohne Daten kein Strom: Welche Auswirkungen resultieren aus dieser exponentiell zunehmenden Interdependenz für die Weiterentwicklung der Marktkommunikation (MaKo) im Stromsektor? Linda Rülicke, Innovationsfeld Digitale Ökosysteme, Fraunhofer IEE / CINES und Volker Flegel, Geschäftsführer, Celron GmbH, informieren in einem Gastbeitrag vor diesem Hintergrund über Rahmenbedingungen und Weiterentwicklungserfordernisse für die zukünftige Gestaltung der MaKo.
Die Eskalation der Komplexität des Datenaustauschs im Stromsektor steigt exponentiell und ist durch eine Vielzahl unterschiedlicher Induktoren charakterisiert. Wesentliche Komplexitätstreiber sind beispielsweise das Datenvolumen, die Anzahl dezentraler Energiesysteme (Erzeuger, Verbraucher, Speicher) und damit die Teilnehmer am Energiesystem sowie das Automatisierungspotenzial (vgl. Abb. 1). Darüber hinaus ist eine zunehmende Komplexität der Marktrollen und -prozesse zu erwarten. Perspektivisch müssen beispielsweise mehrere Mio. Haushaltskunden als Strom- und Flexibilitätsanbieter in das Stromsystem integriert oder werktägliche 24h-Stromlieferantenwechsel realisiert werden. Infolge dieser Entwicklungen resultieren hohe Anforderungen an die Weiterentwicklung und die Zukunftssicherheit der MaKo, die nachfolgend näher betrachtet werden.
Europäische Marktintegration
- Abb. 1: Entwicklung relevanter Komplexitätstreiber Grafik: Celron
Detaillierte Regelungen für die Vollendung eines EUEnergiebinnenmarkts beinhaltet Artikel 194 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der die EU insbesondere zu Maßnahmen für Gewährleistung und Verbesserung der Funktionalität, Versorgungssicherheit, Energieeffizienz und Interkonnektivität ermächtigt. Dementsprechende EU-Richtlinien und Verordnungen wurden insbesondere durch die Energiepakete 1-4 festgelegt.
Analog definieren mehrere EU-Richtlinien und -Verordnungen sowie strategische Initiativen die Entwicklung eines EU-Datenbinnenmarkts. Dieser wird insbesondere durch die Förderung von Datenpartnerschaften und Datenräumen sowie durch Festlegungen zu Datenstandards und Interoperabilität forciert. Dementsprechende Regelungen beinhalten u. a. European Data Strategy (EDS), Digital Single Market (DSM), Data Governance Act (DGA), Digital Markets Act (DMA), Digital Services Act (DSA), General Data Protection Regulation (GDPR) sowie Network and Information Systems (NIS / NIS-2). Diese übergeordneten Strategien und Regelungen der EU dienen der Rahmensetzung. Artikel 288 AEUV regelt im Detail deren Umsetzung durch die EU-Mitgliedstaaten. Dazu zählen insbesondere Umsetzungsfristen, Berichtspflichten, Kontrollregelungen und Sanktionsmechanismen.
Insgesamt ist eine deutliche Zunahme der Bearbeitung von Themen auf EU-Ebene mit unmittelbarer Relevanz für die MaKo sowie mit direkter Bindungswirkung zu verzeichnen (z. B. Datenzugang, Demand Response, Lieferantenwechsel). Vor diesem Hintergrund stellt sich für eine zukunftssichere Ausrichtung und Digitalisierung des Stromsektors in Deutschland nicht die Frage ob, sondern bis wann die Anforderungen des EUBinnenmarktes berücksichtigt werden müssen.
Nationale Initiativen
Die Legislative auf der Bundesebene überträgt üblicherweise der Bundesnetzagentur (BNetzA) die Ausgestaltung und Umsetzung rechtlicher Grundlagen für den Stromsektor.
Ergänzend unterstützen auch Bundesministerien (Forschungs-) Projekte zur Optimierung des Datenaustauschs wie z. B. das ÜNB/VNB Data Space Förderprojekt (BMWK), den Aufbau eines Dateninstituts (BMWK/BMI/dena) oder den Aufbau des Datenökosystems energy data-X (BMWK). Darüber hinaus engagieren sich Initiativen der deutschen Energiewirtschaft wie z. B. BDEW (insbesondere Data Hub) oder EDI@Energy für Standardisierung und Weiterentwicklung eines effizienten Datenaustauschs im Strommarkt.
Kritische Erfolgsfaktoren für zukunftssichere MaKo
Zukunftssichere MaKo basiert insbesondere auf der gezielten Adressierung der Erfolgstreiber in folgenden Kategorien:
Anpassungsfähigkeit
- Interoperabilität (beispielsweise durch Sektorenkopplung mit den Domänen Immobilien (HEMS), Industrie (Demand Response), Mobilität (Vehicle2Grid))
- Skalierbarkeit (u. a. auf die Ebene der Kleinst-Energieunternehmen und Prosumer)
Innovation
- Datenökosystem (nach EU-konformen Standards, insbesondere gemäß Data Spaces Support Centre [DSSC])
- Integration dezentraler, nicht-stationärer Entitäten (Einbindung mobiler Batteriespeicher etc.)
- Real Time-Fokus (werktäglicher 24h-Stromlieferantenwechsel, ad hoc-Flexibilitätsmanagement, Energy Sharing etc.)
IT-Sicherheit
- Cyber Security (insbesondere im Hinblick auf die Network and Information Security Directive 2(NIS-2) und das KRITIS-Dachgesetz etc.)
- DSGVO Konformität (durch automatisierte, rechts-sichere, transparente etc. Datenschutzmaßnahmen)
Wirtschaftlichkeit
- Bezahlbarkeit (durch Aufgabenbündelung, Automatisierung und zentralisierte Abwicklung)
- Entlastung von Energieunternehmen/-dienstleistern (bei IT-Aufwand, Reporting, Ressourcenbindung)
- Remanenzkosten (insbesondere Reduzierung von Abregelungsentschädigungen durch optimierte Netzzustandsprognosen etc.)
Resilienz
- Anonymisierung (datenschutzkonforme Prozesse zur Verarbeitung personen-/unternehmensbezogener Daten)
- Cyber Security (Zero Trusts bei M2M-Kommunikation durch automatisiertes Identitätsmanagement etc.)
- Technologische Souveränität (durch geopolitische Unabhängigkeit von außereuropäischen Tech-Unternehmen etc.)
- Teilnehmer-Souveränität (mittels individueller Steuerung/Transparenz des Datenaustauschs)
Die zukunftssichere Weiterentwicklung der MaKo erfordert demzufolge eine grundlegende, systematische Analyse und Evaluation der vorgenannten energiewirtschaftlichen, rechtlichen und technischen Rahmenbedingungen, um angesichts der Komplexitätseskalation rationale und evidenzbasierte Entscheidungen vorzubereiten.
Grundlegende Handlungsempfehlungen
- Abb. 2: Dezentrale Datenhaltung mit zentraler Datenverarbeitung Grafik: Celron
Bei der Implementierung komplexer Systeme mit MaKo-Charakter in anderen Sektoren (u. a. Automobilsektor, Mobilitätssektor, Plattform Industrie 4.0) wurden prinzipielle „Lessons learned“ identifiziert, die infolge deren Übertragbarkeit auch für die Weiterentwicklung der MaKo im Stromsektor als relevant erscheinen. (vgl. Abb. 2)
Im Hinblick auf zu erwartende, erforderliche Skalierungen sind niederschwellige Zugangsmöglichkeiten für zukünftige bzw. nicht etablierte Marktrollen erforderlich. Im Stromsektor stellen insbesondere die Anforderungen der MaKo für kleine Energieunternehmen sowie perspektivisch für Prosumer eine signifikante Herausforderung dar und erfordern beispielsweise einfach anwendbare, sektorenübergreifend einheitliche Identity & Trust-Prozeduren (EUDI- / European Business Wallet).
Zur Vermeidung von kostentreibenden und akzeptanzbeeinträchtigenden Fehlern, Inkonsistenzen und Redundanzen bei der zukünftigen MaKo erscheint das Single Point of Truth-Konzept (SPoT) als richtungsweisend, da jedes Datum nur an einem einzigen (dezentralen) Speicherplatz beim Dateneigentümer vorgehalten wird, aber über einen Standard-Zugangspunkt erreichbar ist.
Demgegenüber reduziert ein zentrales Processing signifikant die System-Latenz, da die Verarbeitung (dezentral) gehaltener Daten bei allen Marktpartnern mittels einer standardisierten, zentral bereitgestellten Software-Lösung erfolgt. Signifikante zeitliche Verzögerungen sowie funktionale Unterschiede infolge dezentral umgesetzter IT-Lösungen sind damit vermeidbar.
Darüber hinaus vereinfacht eine derartige Konstellation den Einsatz von besonders leistungsfähigen und innovativen KI-basierten Applikationen und ermöglicht datengetriebene Innovationen. Diese sind unabdingbar für die automatisierte Identifikation und Erschließung von (Kleinst)- Flexibilitäten bzw. Data Sharing in Echtzeit.
Analog resultieren umfassende Vorteile für die Cyber Security und Resilienz sowie für die Umsetzung bereits eingeleiteter Anforderungen an die Weiterentwicklung der MaKo wie z. B. Bilanzierung von iMS auf Basis von Viertelstundenwerten, Event-based Data Management, Gateway Administrator Wechsel (GWA), Hochfrequente Messwertbereitstellung für Mehrwertdienste, Permission Administrator, Pseudonomisierung, virtuelle Summenzähler etc.
Fazit
Die zukunftssichere Weiterentwicklung der MaKo im Stromsektor erfordert eine systematische, steuerbare und transparente Konvergenz zwischen der bestehenden MaKo und den bereits auf EU- und nationaler Ebene erkennbaren bzw. erwartbaren Anforderungen an die zukünftige MaKo. Dabei gilt es, verfügbare technische Lösungsoptionen bestmöglich zu nutzen und den entsprechenden administrativen als auch IT-Aufwand für alle beteiligten Marktpartner so gering wie möglich zu halten.