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< Demand Side Management: Zielkonflikt zwischen Flexibilität und Effizienz
09.09.2016 16:21 Alter: 8 yrs

Wie könnte die Stromversorgung im Jahr 2035 aussehen?

50Hertz Transmission versteht sich bei der Umsetzung der Energiewende als ein Dienstleister für die Gesellschaft, der volkswirtschaftlich effizienten Lösungen verpflichtet ist. Mit dem 50Hertz Energiewende Outlook 2035 wurde jetzt ein Blick in die Zukunft geworfen.


Im Fokus steht die Leitfrage: Wie könnte die Stromversorgung im Jahr 2035 aussehen – und welches Netz brauchen wir dafür? Zu wesentlichen Kernaussagen der Studie sprachen wir mit Dr. Dirk Biermann, Geschäftsführer Märkte und Systembetrieb von 50Hertz.

Herr Dr. Biermann, warum blickt 50Hertz auf das Jahr 2035?

Deutschland befindet sich mitten im Prozess der Energiewende; bereits heute werden bundesweit mehr als 30 Prozent des Stromverbrauchs aus erneuerbaren Energien erzeugt, in der 50Hertz-Regelzone waren es 2015 bereits 49 Prozent. Geschwindigkeit und Ausgestaltung der weiteren Entwicklung sind jedoch ungewiss, es stellen sich eine Vielzahl von Fragen, zum Beispiel: Wie schnell wird sich der Zubau der erneuerbaren Energien fortsetzen? Wird die Energiewende durch Prosumermodelle mit Photovoltaik-( PV)-Anlagen und Kleinspeichern geprägt sein? Oder wird Stromerzeugung von großen erneuerbaren Anlagen an ertragreichen Standorten als Ergebnis von Ausschreibungen eher die Zukunft sein? Welche Rolle spielen Kohle- und Gaskraftwerke in der Energiewende? Wie entwickelt sich der Kraftwerkspark unserer europäischen Nachbarn? Die Liste an offenen Fragen könnte ich weiterführen - deutlich ist jedenfalls, dass die künftige Entwicklung des Energieversorgungssystems in Deutschland und Europa ganz unterschiedliche Ausprägungen annehmen kann. Und mit diesen Ausprägungen oder Entwicklungspfaden haben wir uns intensiv in unserem Outlook beschäftigt.

Haben Ergebnisse der Studie Einfluss auf den Netzausbau?

Als Übertragungsnetzbetreiber möchte 50Hertz diejenigen Investitionen in das Übertragungsnetz in Nordostdeutschland tätigen, die für die Umsetzung der Energiewende notwendig sind – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Gleichzeitig versuchen wir, das Risiko von Investitionen zu minimieren, die sich zu einem späteren Zeitpunkt als nicht mehr notwendig erweisen könnten. In Anbetracht der Unsicherheiten sollte der weitere Netzausbau daher möglichst flexibel die unterschiedlichen Ausgestaltungsoptionen der Energiewende ermöglichen. Der 50Hertz Energiewende Outlook 2035 soll hierzu einen Beitrag leisten und diese Unsicherheiten und Entwicklungspfade in Form von eigenen langfristigen Szenarien abbilden. Mit der Ausprägung der Szenarien und darauf aufbauenden Sensitivitätsanalysen erweitert die Studie damit den Betrachtungsbereich des Netzentwicklungsplans.

Welche Entwicklungspfade wurden in der Studie fokussiert?

Die untersuchten möglichen Entwicklungspfade der Energiewende bilden ein breites Spektrum ab. Konkret wurden fünf Szenarien abgebildet, die allesamt nicht unrealistisch und in ihren Auswirkungen auf das Stromnetz relevant sind. Das Szenario „prosumerorientierte Energiewende“ bildet beispielhaft eine Welt mit einer hohen Anzahl an Kleinspeichern, häufig kombiniert mit PV-Anlagen, ab. Das Szenario „Energiewende gemäß EEG-Pfad“ beschreibt den heutigen Entwicklungspfad, in dem die politischen Ziele durch die Kombination unterschiedlicher Technologien erreicht werden. Ein Szenario „wettbewerbliche Energiewende“ mit besonders hohem Anteil an Windkraft simuliert die Auswirkungen von technologieneutralen Ausschreibungsverfahren, die möglicherweise zu einer stärkeren Priorisierung von Anlagen an ertragreichen Standorten führen.

Aber auch das Szenario „verzögerte Energiewende“, bei dem die politischen Ziele nur verzögert umgesetzt werden können, und das Szenario „unvollständige Energiewende“, bei dem mangelnde Akzeptanz die Erreichung von politischen Zielen verhindert, werden untersucht. In Sensitivitäten wurde u.a. zudem betrachtet, wie sich die rasche Reduzierung der Braunkohleverstromung, die Allokation von Gaskraftwerken und ein verstärkter Ausbau von Kleinspeichern tatsächlich auf den Netzausbau auswirken.

Worin liegt der Vorteil eines Szenarioansatzes?

Die Szenarioentwicklung bildet mit aussagekräftigen Grundprämissen und Beschreibungen einen breiten Rahmen ab. Zusätzlich sind Wechselwirkungen innerhalb der Szenarien durch Simulationen berücksichtigt und damit werden die energiewirtschaftlichen Wirkmechanismen konsistent abgebildet. Insgesamt wurden drei Arten von Simulation im 50Hertz Energiewende Outlook 2035 durchgeführt: die Simulation der Entwicklung des Kraftwerksparks, die Simulation des Kraftwerkseinsatzes sowie Netzsimulationen. Anschließend wurden in Sensitivitätsrechnungen die gewonnenen Erkenntnisse überprüft und Treiber identifiziert. Für jedes Szenario wurde die Entwicklung der erneuerbaren Energien und des konventionellen Kraftwerksparks simuliert sowie die Entwicklung des Stromverbrauchs, um die Entwicklung des Gesamtsystems in Deutschland zu erfassen. Spannend ist dabei auch die Frage nach der künftigen Rolle von Demand Side Management und welchen Einfluss neue Stromanwendungen – insbesondere e-Mobility und ein starker Ausbau der Wärmepumpen – auf den Stromverbrauch und das Lastprofil haben werden.

Welche Rückschlüsse lassen sich für den Netzausbau ziehen?

Die Ergebnisse sind deutlich: Die aktuell von 50Hertz geplanten Maßnahmen zum Netzausbau sind nahezu vollständig in sämtlichen Szenarien und Sensitivitäten erforderlich und damit robust. Es zeigt sich, dass auch durch einen gezielten Zubau von Gaskraftwerken in Süddeutschland oder einen starken Rückgang der Braunkohleverstromung praktisch kein Netzausbaubedarf vermieden wird. Auch in einer von dezentralen PV-Anlagen und kleinen Batteriespeichern geprägten Energiewende ist erheblicher Übertragungsnetzausbau notwendig.

Haupttreiber des Ausbaubedarfs ist in unserem Netzgebiet der Windstrom, sowohl onshore aber auch offshore. Das ist natürlich eine schon lange bekannte Tatsache, aber wir können sie nun sehr gut quantifizieren und sehen auch sehr konkret den Effekt der konventionellen Stromerzeugung und einer stärkeren Prosumerorientierung. Besonders Gaskraftwerke springen dann ein, wenn das Winddargebot nicht zur Verfügung steht. Der eingespeiste Strom wird über die dann ohnehin zur Verfügung stehenden Netzkapazitäten transportiert und löst so keinen weiteren Netzausbaubedarf aus.

Die Studie verdeutlicht auch klar, warum ein großes Bündel von Netzverstärkungen, getrieben durch den Windstrom, so stabil und unabhängig von der genauen Ausgestaltung der Energiewende ist. Die Marktmodellierung zeigt, dass die 50Hertz-Regelzone in allen Energiewende-Szenarien deutlicher Nettostromexporteur bleibt. Denn in Ostdeutschland werden – wenn die derzeitigen Ziele der Bundesregierung umgesetzt werden – aufgrund der Flächenverfügbarkeit und des guten Angebots an Sonne und Wind im Jahr 2035 in jedem Szenario hohe Leistungen an den Erneuerbare-Energien-Anlagen installiert sein. Dieses Wachstum der Erneuerbaren geht mit einer geringen Lastdichte einher. D. h., dieser Strom muss aus dem Netzgebiet nach Süden in die Lastzentren transportiert werden. Unsere Netzausbaumaßnahmen sind auf diesen Transportbedarf ausgerichtet und deshalb immer sinnvoll und notwendig, egal wie die Energiewende im Detail weiter ausgestaltet wird, solange der grundlegende Trend bleibt.

Interessanterweise sehen wir für Deutschland insgesamt eine andere Entwicklung, nämlich eine deutliche Reduzierung des Stromexportüberschusses. In einigen Szenarien – den Szenarien „verzögerte“ bzw. „unvollständige“ Energiewende – wird Deutschland sogar tendenziell zum Nettoimporteur elektrischer Energie. Aber auch dies ändert nichts an dem ausgeprägten Nord-Süd-Transportbedarf innerhalb Deutschlands.

Welche signifikanten Ergebnisse zeigen sich für die 50Hertz-Regelzone?

Trotz der aktuell hohen Unsicherheiten ist unsere Planung des künftigen Übertragungsnetzes sehr robust. Das liegt an der ausgeprägten Nord-Süd-Leistungsflussrichtung

und dem starken Export aus dem 50Hertz- Netzgebiet. Der geplante Netzausbau bildet somit den Grundstock für sehr unterschiedliche mögliche Entwicklungspfade.

Hieran sehen Sie, weshalb uns diese Studie so wichtig ist. Wir identifizieren Netzausbaumaßnahmen, die unabhängig von der weiteren Entwicklung der Energiewende in vielen Ausprägungsformen richtig sind, und machen uns damit unabhängig von den unübersehbaren Unsicherheiten. Die Netzverstärkungen bezeichnen wir daher als ‚No-regret‘- Maßnahmen und diese können trotz der aktuellen Unsicherheiten zeitnah umgesetzt werden. Und – dies zeigen weniger die Studie mit ihrem langfristigen Horizont als vielmehr die steigenden Redispatchkosten heute – sie müssen auch dringend umgesetzt werden, da wir bereits jetzt mit dem Netzausbau hinter der rasanten Entwicklung der Erneuerbaren hinterhinken.

Und wie steht es um Netzausbaumaßnahmen?

Für alle fünf untersuchten Szenarien wurden umfangreiche Netzanalysen und Netzberechnungen nach den üblichen Planungskriterien durchgeführt. Konkret bestätigen diese Rechnungen, dass bis zum Jahr 2035, unabhängig von der weiteren Entwicklung der Energiewende, die aktuellen und die in den kommenden Jahren von 50Hertz geplanten Netzausbauprojekte notwendig und robust sind. Das umfasst selbstverständlich insbesondere auch die Netzausbaumaßnahmen nach Enlag und Bundesbedarfsplan.

Der Netzausbau findet bei 50Hertz - schonend für Mensch und Umwelt - fast ausschließlich in bestehenden Trassen statt, einzige Ausnahme bildet die geplante Gleichstrom– Leitung. Für diese neue Gleichstrom- Leitung von Wolmirstedt bei Magdeburg und in der Verlängerung von Güstrow nach Isar bei Landshut wird eine neue Trasse erforderlich – wobei für diese Leitung der neue geschaffene gesetzliche Vorrang der Erdverkabelung gilt. Die heutige Länge des 50HertzÜbertragungsnetzes steigt darum nur leicht an – von derzeit rund 10.000 Kilometer auf rund 10.300 bis 10.500 Kilometer in 2035. Ein Wort noch zur Kostendebatte: Der größere Bedarf an Netzverstärkung ist nicht automatisch mit höheren Kosten gleichzusetzen. So treibt zwar Windstrom den Ausbaubedarf, die günstige Stromproduktion aus Onshore-Wind wirkt den höheren Netzausbaukosten aber entgegen – jedenfalls dann, wenn der Neubau von Windkraft-Anlagen an ertragreichen Standorten erfolgt. Insofern lässt sich der positive Schluss für die Energiewende ziehen, dass wir volkswirtschaftlich in der genauen Ausgestaltung durchaus Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten haben, ohne dass dies automatisch zu volkswirtschaftlich unvertretbaren Mehrkosten führt.

Welche abschließende Wertung zieht 50Hertz aus den Ergebnissen des Energiewende Outlook 2035?

Die in den kommenden Jahren von 50Hertz geplanten Projekte sind grundsätzlich in allen untersuchten Szenarien notwendig. Haupttreiber ist der Windstrom. Der darüber hinaus notwendige Netzausbaubedarf lässt sich trotz aller Unsicherheiten recht verlässlich ermitteln und begrenzen und ist von unseren gewählten Szenarien in der prosumerorientierten Energiewende im Vergleich zu anderen Szenarien des Energiewende Outlooks 2035 am geringsten. Die Summe aus Investitionskosten in Kraftwerksleistung, Investitionskosten in Übertragungsnetze und Brennstoffkosten des konventionellen Kraftwerksparks stellt sich unter den getroffenen Annahmen in allen Szenarien als vergleichbar dar, was Ausgestaltungsspielräume für die Energiewende aufzeigt. Die Szenarien und Sensitivitätsuntersuchungen bilden ein deutlich breiteres Spektrum ab als etwa der Netzentwicklungsplan, bestätigen aber prinzipiell dessen Ergebnisse und somit auch den im Bundesbedarfsplan gesetzlich geregelten Netzausbaubedarf als ein Bündel von schnellstmöglich umzusetzenden No-Regret-Maßnahmen.