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< Vom linearen Stoffstrom zur Kreislaufwirtschaft
06.07.2018 15:21 Alter: 6 yrs

Verteilnetze sind die Drehscheibe der Energiewende

Nur ein systemischer Gesamtansatz in Verbindung mit Technologieoffenheit wird zu einer ökologisch und ökonomisch erfolgreichen Energiewende führen, die zudem akzeptiert wird. Neben der sektorenübergreifenden Herangehensweise in den Bereichen Elektrizität, Verkehr und Wärme kommt den Aspekten der Energieeffizienz und Energieeinsparung eminente Bedeutung zu. Bei der Umsetzung spielen elektrische Netze eine zentrale Rolle.


Ein Gastbeitrag von Prof. Dr.-Ing. Peter Birkner, Honorarprofessor Bergische Universität Wuppertal und Geschäftsführer House of Energy e. V., Kassel.
Foto: House of Energy

Die Energiewende wird bisher vor allem durch den Ausbau erneuerbarer Energien im Stromsektor vorangetrieben. Deren ausgeprägte und leistungsstarke Volatilität erreicht ein System, das für diese Aufgabe nicht konzipiert ist. In diesem Kontext entwickeln sich elektrische Verteilnetze zu einer zentralen und integrierenden Struktur. Sie können als Drehscheibe einer erfolgreichen Energiewende bezeichnet werden.

Erneuerbare Energien – allen voran Sonne und Wind – stellen pro Jahr etwa das 20.000-fache des globalen Energiebedarfs bereit. Allerdings auch mit Eigenschaften, die ihre Nutzung zu einer technischen Herausforderung werden lässt. Die Energie weist eine geringe Dichte auf, die Leistung steht zeitlich nur begrenzt, sowie im Hinblick auf Ort, Zeit und Amplitude stark schwankend, also volatil zur Verfügung. Da die meisten technischen Energiewandler erneuerbare Energien in Elektrizität überführen steht diese Energieform automatisch im Zentrum der Energiewende.

Kombinierte Transformation und Leistungsbedarf

Im Kern zielt die Energiewende auf die Dekarbonisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Sie lässt sich in Deutschland aber aus volkswirtschaftlicher Sicht nur als kombinierte Transformation der Sektoren Elektrizität, Verkehr und Wärme erreichen und auch wirtschaftlich so darstellen. Diese ganzheitliche Vorgehensweise macht es erforderlich, Anwendungen in den Bereichen Mobilität und Wärme (bzw. Kälte), die heute fossile Energieträger nutzen, künftig – ggf. indirekt über synthetische Brennstoffe wie Wasserstoff – zu elektrifizieren.

Um den aktuellen Bedarf an elektrischer Energie in Höhe von etwa 600 TWh durch einen Erzeugungsmix bereitzustellen, der zu 80 % auf erneuerbaren Energien – Wind, Sonne, Wasserkraft, Biomasse – basiert, ist eine Kraftwerksleistung von rund 400 GW erforderlich. Dies entspricht etwa dem 5-fachen des maximalen Leistungsbedarfs von heute. Auf Grund der Diversität des Erzeugungsparks in Bezug auf Typ und Ort treten maximal rund 50 % dieser Leistung, also rund 200 GW, zeitgleich auf und sind damit technisch zu beherrschen.

Energiewende ist im Kern Leistungswende

Künftig wird aber deutlich mehr Elektrizität benötigt. Der aktuelle jährliche Energiebedarf für die genannten Sektoren kann in Deutschland mit rund 2.500 TWh beziffert werden. Auf Elektrizität und Mobilität entfallen dabei jeweils rund ein Viertel, während Wärme (und Kälte) mit rund der Hälfte beiträgt. Nimmt man – überschlägig – an, dass diese Energie weiterhin in gleicher Höhe, jedoch in Form von Elektrizität, benötigt wird, so müsste die installierte elektrische Erzeugungsleistung auf 1.670 GW ansteigen. Dabei wird wiederum ein Anteil von 80 % an regenerativen Energiequellen zugrunde gelegt. Unter Berücksichtigung der Diversität der Erzeugung, die die maximal auftretende Einspeisung auf 50 % der installierten Kapazität reduziert, wären folglich 835 GW technisch zu beherrschen. Dies stellt eine nicht lösbare Aufgabe dar.

Diese Überlegung zeigt klar auf, dass Energiewende im Kern eine Leistungswende ist. Die Diversifikation des regenerativen Erzeugungsparks unterstützt, sie reicht aber nicht aus, um ein tragfähiges Energiesystem, das auf erneuerbaren Energiequellen basiert, zu etablieren. Sie muss durch eine deutliche Steigerung der Energieeffizienz ergänzt werden. Der Slogan der Energiewende muss lauten: „Power Control: Diversity and Efficiency First“.

Energieeffizienz vereinfacht die technische Aufgabenstellung. Legt man einen um 40 % reduzierten Energiebedarf zugrunde und geht weiterhin davon aus, dass etwa 300 TWh an elektrischer Energie außerhalb elektrischer Netze in Power-2-X-Anlagen, z. B. zur Wasserstoffherstellung, genutzt werden, so müssen die öffentlichen Netze - vor allem die Verteilungsnetze - mit einer Energiemenge von rund 1.200 TWh zurechtkommen. Dies korrespondiert mit einer regenerativ dominierten Erzeugungsleistung von etwa 800 GW, von der maximal rund 400 GW zeitgleich auftreten. Es ist ambitioniert, aber machbar.

Energiesystem von Morgen durchdenken

Im elektrischen Energiesystem ist zu jedem Zeitpunkt das globale Gesamtleistungsgleichgewicht aufrecht zu erhalten. Der Strommarkt sorgt für ein gemitteltes Gleichgewicht im Viertelstundenrhythmus, während die Frequenz-Leistungs-Regelung in Echtzeit arbeitet und die Abweichungen innerhalb der Viertelstunde ausregelt.

Eine ähnliche Regelung ist künftig im Netzbereich erforderlich. Dieser muss auf die globalen Preissignale des Strommarktes lokal reagieren. Der globale Strompreis wird ein globales Konsumverhalten hervorrufen, das jedoch zu regionalen Netzengpässen führt und folglich ein regionales Engpassmanagement erfordert. (Abb.1)

Die Ampelfunktion des BDEW (Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft) klassifiziert dieses Vorgehen. In der Phase grün treten keinerlei Netzengpässe auf. Der Markt arbeitet uneingeschränkt. In der Phase rot, diese wird stets mit Regionalbezug ermittelt, greift der Netzbetreiber unverzüglich und – künftig automatisiert – in die Lastflüsse bzw. in die Spannungshaltung ein, um Schäden am System und den angeschlossenen Anlagen zu vermeiden. Dazu erfolgt eine direkte Ansteuerung geeigneter dynamischer Elemente im Netz, im Erzeugungsbereich und beim Kunden.

Zwischen diesen beiden Phasen liegt die Phase gelb. Auch diese hat Regionalbezug. Deutet sich eine Verletzung der technischen Grenzen des betroffenen Netzbereichs an, so wird mittels lokaler netzentgeltbezogener Preissignale versucht die vorhandenen preissensiblen Flexibilitäten auf der Erzeugungsoder Anwendungsseite so zu beeinflussen, dass durch die Anpassung des Einspeise- und/ oder Entnahmeverhaltens eine Rückkehr in die grüne Phase erreicht wird.

Die beschriebenen Prinzipien entsprechen den globalen Mechanismen eines Smart Market und der regionalen Funktion eines Smart Grid.

Nichtlinearitäten des Energiesystems nutzen

Über 95 % des mit erneuerbaren Energiequellen erzeugten Stroms wird in die Verteilungsnetze eingespeist und unterstreicht deren zentrale Rolle bei der Systemintegration erneuerbarer Energien. Die Einspeiseleistung weist eine hochgradig nichtlineare Charakteristik auf. Etwa 95 % der eingespeisten Energie belegt 50 % der installierten Leitungskapazität, währen die restlichen 5 % der eingespeisten Energie die zweiten 50 % der Kapazität beanspruchen. Dies ist eine Konsequenz der ausgeprägten Volatilität der Erzeugung.

Eine dynamische Betriebsweise elektrischer Netze ist damit unerlässlich. Durch Identifikation und die anschließende Beeinflussung von 5 % der zu übertragenden Energie kann die Übertragungskapazität von Verteilungsnetzen deutlich erhöht werden. Dies ist der grundlegende Mechanismus eines aktiven Netzes, eines „Smart Grid“. Technisch gesehen verlagert sich der Fokus von „räumlicher“ Kompensation der Volatilität über Leitungen (Kanten) zu einer „zeitlichen“ Kompensation in den Knotenpunkten des Netzes. Das rechte Maß der beiden Handlungsoptionen zueinander ist gefragt, womit auch Flexibilitäten und Speicher an Bedeutung gewinnen. (Abb.2)

Aktive Netze erfordern weiterentwickelte Bau- und Betriebsgrundsätze. Hier ist zu berücksichtigen, dass aktive Eingriffe Einfluss auf die Versorgungsqualität haben. Auch ist sicher zu stellen, dass im Falle eines Ausfalls der Steuerung keine unzulässigen oder gefährlichen Netzzustände entstehen können. Im Hinblick auf die Regulierung ist die Verlagerung von investive auf operative Kosten durch Weiterentwicklung der Anreizregulierung abzubilden. Nur dann werden Netzbetreiber aktive Netze ausprägen.

Strukturelle Aspekte berücksichtigen

Für das Zusammenwirken der verschiedenen Netzebenen bietet sich die Etablierung einer zellulären Struktur an. Die kleinste Zelle bildet dabei das Gebäude, gefolgt vom Straßenzug, dem Quartier oder dem Gewerbebetrieb, der Stadt, der Region, dem Land und schließlich Europa, als der übergeordneten Zelle. Bemerkenswert ist, dass die sieben etablierten Spannungsebenen und Umspannungen in hohem Maße deckungsgleich mit den genannten Strukturen sind. Entscheidend ist hierbei die Schaffung von Anreizen, die dazu führen, dass die bezogene oder rückgespeiste Leistung einer Zelle (z. B. einem Ortsnetztransformator) mit der vorgelagerten Zelle (z. B. dem Mittelspannungsnetz) minimiert wird. (Abb. 3) Dazu können geeignete Preissignale eingesetzt werden, durch die erhöhte Austauschleistungen zu bestimmten Zeiten verteuert werden. Dies führt zu höheren Stromkosten und initiiert so einen Anreiz für die unterlagerte Spannungsebene, Maßnahmen zur Verringerung der Differenzleistung zwischen Erzeugung und Bedarf zu ergreifen. Durch solch zelluläre Bilanzierung werden die Anforderungen an die jeweils vorgelagerten Netzebenen reduziert und deren Ausbau somit minimiert. Der aktuelle rechtliche Ordnungsrahmen muss dazu allerdings weiterentwickelt werden. Insbesondere ist zu diskutieren, welche Rolle wettbewerbs- bzw. regulierungsbasierte Maßnahmen spielen und wie die Bepreisung von ausgetauschter Leistung und Energie erfolgen sollte.

Das Gesamtsystem im Blick behalten

Für das Stromsystem der Zukunft ist festzuhalten, dass dynamische Aufgaben auch dynamische Lösungen erfordern. Nur so ist die effiziente Beherrschung der Volatilität möglich. Die statische „europäische Kupferplatte“ für alle auftretenden Erzeugungs- und Der Lösungsraum ist vielfältig. Die Verstärkung des Übertragungsnetzes zur Verknüpfung der diversifizierten Erzeugung hat hier genauso ihren Platz, wie eine Flexibilisierung des Kraftwerkseinsatzes (Re-Dispatching) sowie der Nachfrage durch Power-2-X-Anlagen und Sektorenkopplung. Leistung muss zeitlich und örtlich betrachtet werden. Differenzen sind zu minimieren und durch das Netz, Flexibilität oder durch Speicher auszugleichen.

Daraus resultiert auch eine Aufgabenteilung zwischen Übertragungs- und Verteilungsnetz. Dezentrales Erzeugungs-, Last und Speichermanagement ist notwendig, um die Übertragungsnetze nicht zu überlasten. Der aktuell vorgenommene Ausbau des Übertragungsnetzes dürfte die Grenzen der Akzeptanz in der Bevölkerung ausloten. Daher ist ein entscheidender Teil der Lösung im Verteilungsnetzbereich zu suchen. Auch diese Netze müssen eine Ausgewogenheit zwischen statischen und dynamischen Verfahren anstreben. Hierbei ist es ratsam situativ und subsidiär vorzugehen.

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