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Kategorie: Nachhaltigkeit
Verbraucher in einem dezentralen Leistungsmarkt
Um die Versorgungssicherheit in Deutschland auf dem heutigen Niveau halten zu können, benötigen wir künftig Regeln für einen Marktplatz für gesicherte Leistung und nicht nur einen auf Energiemengen fokussierten Energy-only-Markt (EOM). Das hierfür vorgeschlagene integrierte Energiemarktdesign (iEMD) schafft einen wettbewerblich organisierten Leistungsmarkt, der die Versorgungssicherheit weiter gewährleistet und Kraftwerken, die dazu einen dezidierten Beitrag leisten, einen wirtschaftlichen Betrieb ermöglicht. Der folgende Beitrag von Dr. Nicolai Herrmann von enervis energy advisors zeigt Lösungsansätze für einen Leistungsmarkt mit dezentraler Nachfrage. (Textquelle: BDEW-Workshop „Zukünftiges Marktdesign“ vom Mai 2013 in Berlin)
Der heutige Strommarkt vergütet allein das Bereitstellen elektrischer Arbeit. Es ist jedoch fraglich, ob auf dieser Basis langfristig eine ausreichende Leistungsvorhaltung organisiert werden kann. Insbesondere besteht im EOM das Problem einer kurzfristig sehr unflexiblen Nachfrage. Weiterhin nehmen die Einsatzstunden konventioneller Kraftwerke aufgrund der steigenden Erzeugungsanteile Erneuerbarer Energien stetig ab. Dies hat zur Folge, dass sich die für die Versorgungssicherheit weiterhin benötigten konventionellen Kraftwerke nicht mehr wirtschaftlich betreiben lassen und es sich daher absehbar auch nicht lohnt, neue Kapazitäten zuzubauen. Vor allem Gaskraftwerke werden infolge des steigenden Anteils des vom Gesetzgeber mit Einspeisevorrang bedachten Wind- und Solarstroms trotz ihrer im Vergleich zu Kohlekraftwerken geringen Emissionen immer seltener eingesetzt und können ihre Kosten nicht mehr decken. Um diese Probleme anzugehen, sollte der heutige Strommarkt aufbauend auf bewährten Strukturen wie dem Energy-only-Markt daher in einem neuen Energiemarktdesign ergänzt werden. Bestandteil eines solchen neuen Marktdesigns sollte ein dezentral organisierter Leistungsmarkt sein, der es Kraftwerken ermöglicht, die Kosten der Leistungsvorhaltung in einem separaten Markt zu erwirtschaften. Im Folgenden beschreiben wir diesen Lösungsansatz und betrachten Verbraucher als Nachfrager von gesicherter Leistung in einem dezentralen Leistungsmarkt.
Umfassender Wettbewerb der Optionen
Will man die wesentlichen Eigenschaften eines dezentralen Leistungsmarktes darstellen, so ist ein Vergleich mit anderen Ausgestaltungsoptionen hilfreich. Dabei stehen zwei Kernfragen im Zentrum, nach denen sich die verschiedenen Vorschläge für Kapazitätsmechanismen gliedern lassen: Wer fragt Leistung nach? (Zentralität/ Dezentralität der Nachfrage) und Wer erhält Leistungserlöse? (selektives oder umfassendes Wettbewerbsfeld). Diese Einordnung ist in Abbildung 1 dargestellt. Es zeigt sich, dass die meisten Vorschläge für selektive, fokussierte (d. h. aus mehreren selektiven Mechanismen kombinierte) und umfassende Kapazitätsmechanismen auf einer zentral regulierten Festsetzung der Kapazitätsmenge beruhen. Sie unterscheiden sich jedoch in Bezug auf das adressierte Wettbewerbsfeld. So schließen selektive Mechanismen grundsätzlich gewisse Optionen der Leistungsbereitstellung aus, die in umfassenden Mechanismen enthalten sind. Dezentrale Mechanismen, z. B. der für 2014 geplante französische Kapazitätsmarkt und der vorgeschlagene dezentrale Leistungsmarkt (VKU/Thüga) sind in Bezug auf das Wettbewerbsfeld umfassend, basieren aber auf einer dezentralen, marktlich organisierten Kapazitätsnachfrage ohne Festlegung durch einen zentralen Regulierer. Auf Basis dieser Einordnung lässt sich der dezentrale Leistungsmarkt folgendermaßen charakterisieren: Er stellt alle Optionen zur Leistungsvorhaltung in einen Wettbewerb und ist daher ein umfassender Kapazitätsmarkt. Er transferiert die (zu erwartenden) Knappheitspreise (Kapazitätsprämien) des EOM in marktlich determinierte Leistungspreise, die so für Anbieter und Nachfrager von Kapazität berechenbar werden. Und er stellt Marktakteure in die Verantwortung für die Vorhaltung und Beschaffung von gesicherter Leistung und ermöglicht so eine gezielte Bewirtschaftung der „Commodity“ Leistung. Der dezentrale Leistungsmarkt ist somit ein integrierter Kapazitätsmarkt, d.h. gesicherte Leistung wird von einer Vielzahl von Marktakteuren über alle Stufen der Wertschöpfungskette integriert bewirtschaftet und optimiert, wie in Abb. 2 dargestellt.
Was spricht für einen dezentralen Kapazitätsmarkt? Hierfür sind verschiedene Abwägungsfragen zu beantworten, die nachfolgend kurz skizziert werden sollen; das Ergebnis der Abwägung ist dabei abhängig von einer Gewichtung der Entscheidungskriterien.
1. Ist ein Kapazitätsmechanismus notwendig? Zwar fehlt der empirische Nachweis, um diese Frage abschließend zu beantworten, jedoch finden sich mehrere Indizien für die Notwendigkeit, so dass hier ein Ja steht. Zum einen erleben wir die abnehmende Auslastung konventioneller Kraftwerke und sehen strukturelle Defizite des EOM (fehlende Nachfrageflexibilität). Zum anderen scheint die Wirkung von Knappheitspreisen fraglich. Vor allem aber fehlt ein verlässlicher Entscheidungsrahmen, so dass die Marktakteure derzeit eher abwarten.
2. Die Antwort auf die Frage nach selektiv oder umfassend lautet Umfassend. Denn wir benötigen einen möglichst großen Optionsraum für energiewirtschaftlichen Wettbewerb, den der dezentrale Leistungsmarkt als umfassender Mechanismus schafft und daher dynamische Effizienzvorteile realisiert. Anzumerken ist außerdem, dass Verteilungseffekte bei der Einführung eines Kapazitätsmechanismus vorübergehend sind und daher, wenn notwendig, anderweitig adressiert werden sollten, d. h. außerhalb des Mechanismus.
3. Unsere Abwägung zwischen zentral oder dezentral zeigt eindeutig nach Dezentral. Denn die individuellen Präferenzen der Nachfrageseite dimensionieren den Leistungsbedarf des Systems, weshalb der Bedarf an gesicherter Leistung durch die Nachfrageseite auch am besten eingeschätzt und auf Basis der richtigen Anreize sehr effizient bewirtschaftet werden kann. Die Beteiligung vieler Marktakteure reizt Innovationen an und erschließt effiziente Lösungen, die einem zentralen Regulierer nicht bekannt sein können. Ein dezentraler Leistungsmarkt hat daher aus unserer Sicht langfristig Effizienzvorteile und führt zu günstigen gesamtwirtschaftlichen Kosten. Aus diesem Grund wird eine dezentrale Organisation der Kapazitätsvorhaltung auch von den energiewirtschaftlichen Spitzenverbänden BDEW und VKU favorisiert.
4. Beim Entscheidungskriterium verpflichtend oder individuell favorisieren wir Individuell. Denn eine regulatorische Verpflichtung der Vertriebe ist bei richtiger Gestaltung des Anreizrahmens nicht notwendig. In seiner hier vorgeschlagenen Ausgestaltung schafft der dezentrale Kapazitätsmarkt nachhaltige Anreize zur effizienten Leistungsvorhaltung und minimiert die Abweichungsanreize, so dass die Versorgungssicherheit gewährleistet ist.
Wertschöpfungskette
Wichtig für die weitere Betrachtung sind die zentralen Wirkungen entlang der Wertschöpfungskette. Wir betrachten dafür den Prozess von Stromerzeugung und Leistungsbereitstellung über Handel/ Strukturierung bis zur Stufe Vertrieb/ Verbraucher. Für die genannten Prozessstufen sind folgende Wirkungen des dezentralen Leistungsmarktes herauszustellen:
Stromerzeugung & Leistungsbereitstellung
Erzeuger erhalten eine Erlöskomponente für gesicherte Leistung durch den Verkauf von Zertifikaten, zusätzlich zum Stromverkauf am EOM. Es ist davon auszugehen, dass die weitgehende marktliche Organisation des iEMD einen ausreichend stabilen Rahmen für Investoren darstellt und dass sich entsprechende (Leistungs-) Produkte bilden werden. Im Vergleich zum heutigen Marktdesign diversifiziert und reduziert der dezentrale Leistungsmarkt Risiken für Erzeuger, belässt aber auch Risiken im Markt. Er integriert auch explizit dezentrale Optionen mit günstiger Risikostruktur, insbesondere Lastflexibilität.
Handel & Strukturierung
Neben dem Stromhandel entsteht ein Markt für Leistungszertifikate inklusive Terminhandel. Leistung wird damit zu einer handelbaren „Commodity“. Es entstehen neue Marktrollen für Strukturierung, Risikotragung, Poolung und Optimierung, denn die Akteure haben aus dem Markt heraus starke Anreize, ggf. bestehende Ineffizienzen abzustellen. Sie werden z.B. Gleichzeitigkeitseffekte heben.
Vertrieb & Verbraucher
Da sich das Wissen über dezentrale und atypische Optionen dezentral im Markt befindet, können es Vertriebe am besten erschließen. So entsteht ein Wettbewerb um Innovationen und Produkte. Eine zentrale Festlegung und Standardisierung von Produkten ist nicht notwendig. Insbesondere wird dadurch die Erschließung von dezentral vorhandenen Optionen zur Leistungsvorhaltung und Leistungsfreisetzung ermöglicht. Die Effizienz eines dezentralen umfassenden Leistungsmarktes kommt so perspektivisch auch dem Endkunden zu Gute.