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Standortpolitik ist Klimapolitik
Wir müssen führender Standort für Transformationstechnologien werden, nachhaltige sowie digitale Innovationen weiter vorantreiben und weltweit exportieren. Damit maximieren wir unseren Beitrag zum globalen Klimaschutz und erfinden das Exportmodell Deutschland neu.“ Hildegard Müller
Der Verband der Automobilindustrie (VDA) fordert ein klares politisches Bekenntnis zum Industriestandort Deutschland. Die politischen und wirtschaftlichen Akteure müssen die Transformation zur Klimaneutralität mit noch mehr Nachdruck voranbringen, so VDA-Präsidentin Hildegard Müller bei der VDA-Jahresauftaktpressekonferenz 2023. Anlass für THEMEN!magazin zu einem Gespräch über Bilanz und Perspektiven einer Schlüsselindustrie im Spannungsfeld von Industrie- und Klimapolitik.
Frau Müller, wie blickt eine Schlüsselindustrie aktuell auf den Wirtschaftsstandort Deutschland?
Zunächst einmal muss man sagen, dass die Wirtschaft und mit ihr die Unternehmen der deutschen Automobilindustrie vor bisher ungekannten und ungeahnten Herausforderungen stehen. Die Knappheiten bei Halbleitern, anderen Vorprodukten und Rohstoffen strapazieren die Liefer- und Transportketten auf das Äußerste. Hinzu kommen die massiv gestiegenen Energiepreise, die nicht ausschließlich, aber ganz besonders unsere mittelständischen Unternehmen stark belasten. Man muss konstatieren: Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, neue Corona-Lockdowns in China und insbesondere die Energiekrise haben die in Teilen schon vorher vorhandenen Standortschwächen Deutschlands schonungslos offengelegt.
Welche Anforderungen leiten sich daraus an Politik ab?
Die geopolitischen Entwicklungen haben uns vorgeführt, dass unser bisheriges Wirtschaftsmodell kein automatischer Wohlstandsgarant mehr ist. Nach einem Jahr der Krisenpolitik muss 2023 zum Jahr strategischer Entscheidungen werden. Auch, weil international ein intensiver Standortwettbewerb begonnen hat. Durch zielgerichtete Standort- und Wirtschaftspolitik müssen Deutschland und Europa jetzt dafür sorgen, dass es nicht zu einer globalen Achsenverschiebung kommt. Ohne ein ambitioniertes Programm für Wettbewerbsfähigkeit und Standort drohen wir, global dauerhaft den Anschluss zu verlieren – mit negativen Folgen für Wohlstand, Beschäftigung und auch für den Klimaschutz. Nur eine erfolgreiche Transformation, die Klima und Wirtschaft zusammendenkt, kann Vorbild für andere Regionen der Welt werden. Deshalb muss Deutschland ein Transformations-Standort mit attraktivsten Infrastruktur-Bedingungen werden.
Wie kann die globale Relevanz Deutschlands gesichert werden?
Die europäische Antwort auf die vielen De-Globalisierungsszenarien muss eine klare Re-GlobalisierungsAgenda sein. Das Leitmotiv muss lauten: So autonom wie notwendig und so offen, global und marktorientiert wie möglich. So sichern wir wirtschaftliche Stärke und damit Relevanz und Einfluss. Dazu sind Rohstoff- und Handelsabkommen sowie Energiepartnerschaften dringend notwendig. Solche Kooperationen und Partnerschaften können die tragenden Säulen für eine krisensichere, robuste und erfolgreiche Transformation der Wirtschaft bilden. Zusätzlich helfen sie Deutschland dabei, Abhängigkeiten abzubauen und sich resilienter aufzustellen. Ziel muss es also sein, möglichst viele internationale Handelsabkommen in möglichst vielen Weltregionen abzuschließen.
Zurück zu Deutschland, muss eine marktwirtschaftlichorientierte Industriepolitik wieder auf die Agenda?
Ja, dies muss sie unbedingt, denn die Lage ist ernst. Berlin und Brüssel müssen jetzt schnellstmöglich die Wettbewerbsfähigkeit Europas sicherstellen. Dabei ist klar: Industriepolitik ist Klimapolitik. Nur mit den richtigen Rahmenbedingungen können die europäische und die deutsche Industrie weltweit führend bei Transformationstechnologien sein, nachhaltige sowie digitale Innovationen weiter vorantreiben und diese weltweit exportieren. Der hohe Anteil der Industrie in Deutschland ist dabei eine große Chance – vorausgesetzt, Politik ermöglicht es, sie zu nutzen.
»Fakt ist: Die Industrie ist Deutschlands Wohlstandsmotor und dieser Motor braucht Energie.«
Das heißt: Industriepolitik muss entfesseln und nicht etwa für Unternehmen entscheiden. Sie muss auf marktwirtschaftliche Instrumente setzen und technologieoffen bleiben. Die Auffassung, Zukunft vorausschauen zu können und ihr nicht offen, sondern festgelegt – in einem engen Korsett aus Regeln und Verordnungen – zu begegnen, ist innovationshemmend. Fortschritt basiert auf Ideenreichtum und Risikobereitschaft. Diese Mentalität muss gefördert und gelebt werden.
Kann man Industrieund Energiepolitik trennen?
Fakt ist: Die Industrie ist Deutschlands Wohlstandsmotor und dieser Motor braucht Energie. Diese Energie sollte gleichzeitig CO₂-frei und bezahlbar sein. Darum ist es wichtig, dass sich die Politik nicht nur mit den akuten Auswirkungen der Energiekrise beschäftigt, sondern eine strategische langfristige Versorgung sicherstellt. Schließlich ist der Zugang zu Energie längst eine Schlüsselfrage im internationalen Wettbewerb. Berlin und Brüssel müssen sich zukünftig gemeinsam konsequenter für internationale Energiepartnerschaften einsetzen.
Entscheidend wird sein, dass der Energiebedarf mit allen vorhandenen Optionen abgesichert wird. Wenn der aktuelle Energiepreisschock nicht zu einem langfristigen Standortnachteil werden soll, ist diese Einsicht zwingend notwendig. Und: Je stärker sich Energiebeschaffung und -erzeugung verteuern, umso mehr muss der Staat dafür sorgen, dass andere Kosten- und Steuerbelastungen gesenkt werden.
Sie stellen klare Forderungen an einen Infrastrukturstandort Deutschland ...
Weil es hier nichts zu beschönigen gibt, Deutschland hat dringenden Nachholbedarf. Und eines muss doch klar sein: Wenn politische Ziele angesichts wachsender Herausforderungen immer ambitionierter werden, dann muss auch die staatliche Leistungsfähigkeit in gleichem Maße mitwachsen. Sie muss sich an der Geschwindigkeit der Wirtschaft messen lassen. Nehmen wir nur die digitale und analoge Infrastruktur. Laut einer Erhebung des Instituts der deutschen Wirtschaft sehen sich 80 Prozent der Unternehmen in Deutschland durch eine mangelhafte Infrastruktur in ihrem Geschäft beeinträchtigt. Gesperrte Autobahnen, Ausfälle im Schienenverkehr oder Staus in den Seehäfen erschweren die Aktivitäten der Firmen. Das zeigt, dass der Infrastruktur in Deutschland wieder eine zentrale Bedeutung zukommen muss.
Schauen wir auf die Ladeinfrastruktur für E-Autos. Sie ist der Schlüsselfaktor schlechthin, wenn es um das Vertrauen der Menschen in die E-Mobilität geht. Das zeigen auch Umfragen immer wieder. Die Verbraucherinnen und Verbraucher brauchen die Gewissheit, überall und zu jeder Zeit unkompliziert laden zu können. Tatsächlich aber klaffen die ausgerufenen Ziele und die Realität weit auseinander. Um das Ziel der Bundesregierung von 1 Million Ladepunkten bis 2030 zu erreichen, muss das durchschnittlich Ausbautempo bei der Ladeinfrastruktur verfünffacht werden. Wir brauchen also deutlich mehr Tempo.
Ebenfalls besorgniserregend: In der schon angesprochenen Studie geben mehr als zwei Drittel der von Infrastrukturmängeln betroffenen Unternehmen an, dass ein Teil ihrer Probleme im Bereich der Kommunikationsinfrastruktur liegt. Doch um die herausfordernden wirtschaftlichen Ziele erreichen zu können, braucht es nicht nur eine ausgezeichnete analoge, sondern auch eine ausgezeichnete digitale Infrastruktur. Auch hier muss Deutschland dringend aufholen.
Und sicher auch mehr Geschwindigkeit bei bürokratischen Prozessen?
Ohne Frage, ja. Langsame und bürokratische Genehmigungsverfahren entwickeln sich zu einer immer größeren Herausforderung für die Industrie, auch für die Unternehmen der deutschen Automobilindustrie. Doch zwischen der betrieblichen Realität und dem Anspruch der Bundesregierung, Planungs- und Genehmigungsverfahren zu beschleunigen, klafft ein himmelweiter Unterschied. Hier herrscht dringender Reformbedarf. Deutschland muss digitaler, einfacher und schneller werden. Angekündigte Belastungsmoratorien müssen umgesetzt und Bürokratie-Abbau zur Ampel-Maxime werden.
Abschließend die Frage, wie sehen Sie das Verhältnis von Industrie und Klimaschutz?
Die deutsche Automobilindustrie steht zu den Klimaschutzzielen und investiert bis 2026 rund 220 Mrd. Euro in neue Antriebe und neue Technologien. Wir treiben die klimaneutrale Mobilität mit aller Kraft voran. Um dies erfolgreich zu bewältigen, muss der hohe Industrieanteil in Deutschland erhalten bleiben – im Sinne des Wohlstandes unseres Landes und ebenso im Sinne des Klimaschutzes.
Die deutsche Industrie und mit ihr die deutsche Automobilindustrie exportieren Zukunftstechnologien in die ganze Welt und das ist der größtmögliche Beitrag, den Deutschland zum globalen Klimaschutz leisten kann. Deswegen braucht es das Bekenntnis zur Industrie. Von der Politik und der gesamten Gesellschaft.
Frau Müller, vielen Dank für das Gespräch.
Transformation der Automobilindustrie
Die Autoindustrie steht aus fester Überzeugung hinter den Pariser Klimazielen und will schnellstmöglich klimaneutrale Mobilität realisieren – eine klimaneutrale Mobilität, die sicher, digital, effizient und für alle zugänglich und bezahlbar ist. Im PkwBereich liegt der Fokus dabei klar auf der Elektromobilität. Die deutsche Automobilindustrie treibt die Transformation zu klimaneutraler Mobilität entschlossen voran und tätigt gewaltige Investitionen. Allein in den Jahren 2022 bis 2026 investieren unsere Unternehmen 220 Milliarden Euro in den Bereich Forschung und Entwicklung, vor allem in die Elektromobilität und die Digitalisierung. Hinzu kommen bis zum Jahr 2030 mindestens 100 Milliarden Euro für den Umbau von Werken. Diese Investitionen unterstreichen, mit welcher Kraft wir die klimaneutrale Mobilität von morgen vorantreiben.
Ich bin fest überzeugt: Wer Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Sicherheit zusammendenkt, dem gehört die Zukunft.
VDA-Präsidentin Hildegard Müller