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Rettungsinseln der Energiemärkte: Moderne Handels- und Risikomanagementsysteme
Die Energiebeschaffung von Versorgern und Stadtwerken war lange Zeit von Routine gekennzeichnet. Die anhaltende Preisrallye sowie die hohe Volatilität an den Großhandelsmärkten für Strom und Gas hat das schlagartig geändert – und viele der Geschäftsbereiche für Energiebeschaffung und -vertrieb sowie das Risikomanagement sind nicht optimal auf diese Veränderungen eingestellt. Im Gespräch wirft Markus Rieß, Geschäftsführer der auf Energie- und Finanzmärkte spezialisierten Managementberatung FORRS Partners in München, einen Blick auf die aktuellen Herausforderungen.
„Um langfristig am Markt zu bestehen, sind schnell verfügbare, zuverlässige Daten mittlerweile unverzichtbar.“ Markus Rieß
Herr Rieß, wie hat sich aus Ihrer Sicht der Energiesektor verändert?
Russlands Angriff auf die Ukraine hat die globalen Energiemärkte erschüttert. Der deutsche und europäische Energiesektor unterliegen jedoch nicht erst seit diesem gravierenden Ereignis einem erheblichen Veränderungsprozess. Die Innovationszyklen und Disruptionen, denen die Stadtwerke und Energieunternehmen heute ausgesetzt sind, wurden bereits mit der Liberalisierung der europäischen Energiemärkte Ende der 90er Jahre initiiert und dann durch den Fukushima Vorfall, dem daraus resultierenden schnellen Atomausstieg in Deutschland, dem folgenden Zubau der Erneuerbaren und den aktuellen, massiv unterschätzten Abhängigkeiten im Gasmarkt, erheblich beschleunigt.
Die Tatsache, dass sich der Energiemarkt gleichzeitig fast in allen Belangen verändert, ist für Energieunternehmen zu einer erheblichen Herausforderung und Aufgabe geworden. Tiefgreifende regulatorische Anforderungen, getriggert durch den Klimawandel und die Dekarbonisierung erzwingen Geschäftsmodellanpassungen auf allen Ebenen der Wertschöpfungskette und eine hohe Beschleunigung bei der Digitalisierung aller relevanten Prozessschritte in den Unternehmen. Alle Veränderungen müssen exakt aufeinander abgestimmt werden, um die Unternehmen optimal und nachhaltig im Markt zu positionieren.
FORRS arbeitet hauptsächlich mit Kunden, die an den Handelsmärkten aktiv sind oder mit Unternehmen, die sehr viel Energie für Ihre Produktionsprozesse beschaffen und somit einem hohen Preisrisiko ausgesetzt sind. Wo setzen diese Unternehmen aktuell die Prioritäten?
Unsere Kunden arbeiten mit Hochdruck daran, sich besser auf die hohen Preisschwankungen und Volatilitäten einzustellen. Beginnend bei der kompletten Überarbeitung der Risikomanagementstrategie, des Limitmanagements aber auch bei der Erneuerung der Handels-, Risikomanagement-, Pricing- und Settlementsysteme; sowie die oft fundamentale Überarbeitung des Datenmanagements im gesamten Unternehmen.
Viele bestehende Risikomanagementprozesse sind mit den hohen Volatilitäten in den letzten Monaten an ihre Grenzen gestoßen und haben so deutlich zu langsam auf Preisschwankungen reagieren können. Hedging- und Handelsstrategien waren oft nicht adäquat konstruiert und daher ineffizient als Risikomanagementinstrument. Auch viele Versorger hat das finanziell ‚kalt erwischt’. In der Folge müssen dann erhebliche Mengen in stark steigenden Märkten nachgekauft werden, um Lieferverpflichtungen zu erfüllen.
Hinzu kommt, dass der bislang relativ starke bilaterale OTC-Markt (Redaktion: Over-the-Counter; bilateraler Handel zwischen Unternehmen oder über Broker) erheblich eingebrochen ist und seit Mitte 2021 weitaus mehr Transaktionen über die einschlägigen Börsenplätze abgewickelt werden.
Wo liegen nach Ihrer Einschätzung die Ursachen?
Die hohen Volatilitäten und auch die Preissteigerungen haben viele Marktteilnehmer an ihre finanziellen Grenzen gebracht. Mit den Preisrisiken ist auch das sogenannte Kredit- oder Kontrahentenausfallrisiko an den Energiemärkten erheblich gestiegen. Marktteilnehmer mussten erhebliche Sicherheitsleistungen an die Clearinghäuser leisten, um weiterhin Ihre Positionen offen zu halten.
Hinzu kommt, die Bilanzen der Energieversorger wurden und werden durch die aktuelle Marktsituation erheblich belastet, da eine viel höhere Liquidität notwendig ist, um das Handelsgeschäft zu ermöglichen. Das erheblich gestiegene Ausfallrisiko ist daher der Auslöser für den Rückgang von bilateralen Handelsgeschäften.
Gilt das auch für die großen Kunden der Energieversorger, also die energieintensive Industrie?
Definitiv. Je nachdem wie sich die Unternehmen vor dem starken Preisanstieg langfristig abgesichert haben, leiden alle Unternehmen erheblich unter den gestiegenen Energiepreisen. Viele Unternehmen im Produktionssektor haben ihre Fertigungszyklen auf die Schwankungen der Strompreise angepasst - was natürlich seine Grenzen hat und erhebliche Folgeprobleme in den Logistikketten der Unternehmen aufwirft.
Unternehmen, die Erdgas für Ihre eigenen Kraftwerke oder Produktionsanlagen beziehen, haben noch weitaus gravierendere Herausforderungen und stellen sich derzeit sogar auf Produktionsausfälle ein. Aus diesem Grund hat die Bundesregierung auch ein Bürgschaftsprogramm sowie einen Schutzschild für stark betroffene Unternehmen aufgelegt.
Datengetriebene Energiewirtschaft: Der steigende Anteil erneuerbarer Energien zwingt Unternehmen, bei der Beschaffung und Vermarktung schneller zu agieren. Mit der Digitalisierung von Handelsprozessen und Datenmanagement werden die Weichen für eine datenzentrierte Zukunft gestellt.
Was sollten Energieversorger aber auch die energieintensive Industrie tun, um sich besser auf diese „neue Energiewelt“ einzustellen?
Je nach Positionierung des Unternehmens müssen Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen initiiert werden. Im Rahmen der Unternehmensstrategie sollte eine klare Positionierung der Handels- oder Beschaffungsstrategie verankert und dokumentiert werden. Aus dieser Positionierung leiten sich dann die Eckpunkte und Limitstrukturen für das Risikomanagement des Unternehmens ab.
Risikotragfähigkeit und Limite für Risikokennzahlen sind derzeit oft nicht adäquat hergeleitet und aufeinander abgestimmt. Bei der Umsetzung einer Risikostrategie nimmt der Bereich Governance, Risiko und Compliance (GRC) heutzutage eine immer stärkere Bedeutung ein als noch vor einigen Jahren. Firmen müssen durch leistungsfähige GRC-Prozesse und Systeme Risiken viel schneller und idealerweise automatisiert erkennen, bewerten und in die täglichen Entscheidungsprozesse einfließen lassen. Nicht nur in der Informationstechnologie, sondern auch in der prozessualen Abstimmung bestehen bei vielen Unternehmen noch erhebliche Defizite.
Es besteht also ein hoher Bedarf hinsichtlich Anpassung der Risikound Beschaffungshandbücher?
Ja - aber das reicht nicht aus. Die heutigen Märkte unterliegen extrem schnellen Veränderungen, die Unternehmen durch manuelle oder semi-manuelle Prozesse und Entscheidungswege nicht mehr kontrollieren können. Handels- und Risikosysteme müssen optimal aufeinander abgestimmt sein, um proaktiv zu reagieren und den Handels- und Beschaffungsspezialisten optimale Handlungsempfehlungen zu geben. Der automatische Handel im Intradaymarkt ist dabei nur eine Komponente. Ohne leistungsfähige Entscheidungsunterstützungssysteme, die auch zunehmend KIBestandteile enthalten, wird es zukünftig auch im Energiemarkt nicht mehr gehen. Der Trend geht aktuell eher weg vom System zur Entscheidungsunterstützung hin zur Entscheidungsautomatisierung. Die „Back-to-Back“ Beschaffung auf Basis von Excel Spreadsheets gehört der Vergangenheit an.
Wie ist Ihre Prognose für die Weiterentwicklung der Energiewende und den Ausbau der Erneuerbaren?
Schon vor dem Russland-Ukraine-Konflikt versuchte die Welt, sich dem Wendepunkt für eine saubere Energiewende zu nähern. Mehr als 80 % der Weltwirtschaft haben sich verpflichtet, sich in Richtung „CO2 -Neutralität“ zu bewegen. Das Jahr 2021 war ein Rekordjahr für die vielversprechendsten sauberen Technologien: mit Rekordverkäufen bei Elektrofahrzeugen und Wärmepumpen, dem Einsatz von Batteriespeichern sowie vielen neuen Programmen für Wasserstofferzeugung und Transportkonzepte.
Erneuerbare Energien dominieren weiterhin die neuen Stromkapazitäten und markieren einen Rekord nach dem anderen. Bis wir aber einen wirklichen Wendepunkt in Richtung Dekarbonisierung erreicht haben, ist noch eine Menge zu tun. Der Energiesektor ist dabei ein entscheidender Hebel.