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Ostdeutschland ist Frühwarnsystem der Energiewende
Carl-Ernst Giesting, Vorstandsvorsitzender der envia Mitteldeutsche Energie AG (enviaM) im Interview
Für Carl-Ernst Giesting, Vorstandsvorsitzender der envia Mitteldeutsche Energie AG (enviaM), ist Ostdeutschland das Frühwarnsystem der Energiewende. Dies gelte insbesondere mit Blick auf die Entwicklung der erneuerbaren Energien und ihre Folgen. „In den neuen Bundesländern sind die Ausbauziele der Bundesregierung für 2030 schon jetzt erreicht“, so Giesting im Interview mit dem ThemenMagazin Energie. Die stetig zunehmende Stromerzeugung vor allem aus Windkraft- und Photovoltaikanlagen lasse die Stromnetze immer häufiger an ihre Grenzen stoßen. Die steigenden Netzausbaukosten führten unweigerlich zu höheren Netzentgelten und damit verbundenen höheren Strompreisen in der Region.
Herr Giesting, warum sehen Sie Ostdeutschland als ein Frühwarnsystem der Energiewende?
Die neuen Bundesländer sind wie ein Brennglas für die Energiewende: Hier geht alles schneller voran, die damit verbundenen Herausforderungen zeigen sich gleichzeitig umso deutlicher. In keiner anderen Region Deutschlands entstehen so viele und so leistungsstarke Anlagen zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien. Gefördert wird dieser Trend durch günstige Standortbedingungen wie große brachliegende Flächen zum Beispiel ehemalige Tagebaugebiete oder Truppenübungsplätze. Das hat Auswirkungen auf die bestehende Netzinfrastruktur, da die Orte des Verbrauchs und der Erzeugung weit auseinanderliegen. Weil der Netzausbau mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien nicht Schritt hält, haben wir zudem mehr Eingriffe zur Gewährleistung der Netzstabilität und höhere Netzentgelte als in anderen Regionen. Kurzum, wir erleben hier heute Entwicklungen, die sich für die gesamte Bundesrepublik erst in 10 bis 20 Jahren zeigen werden. Gleichzeitig ist klar: Stemmen wir die Energiewende in Ostdeutschland, dann wird es auch woanders funktionieren. Wenn nicht, sind die Konsequenzen für alle umso intensiver.
Wohin führt diese Entwicklung?
Wir haben die Ausbauziele der Bundesregierung für 2030 schon jetzt erreicht. Allein im Netzgebiet unseres Netzbetreibers MITNETZ STROM, das sich über Teile der Bundesländer Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen erstreckt, haben die erneuerbaren Energien 2012 einen Anteil von 60 Prozent am Letztverbraucherabsatz erreicht. Im Bundesdurchschnitt waren es im Vorjahr gut 20 Prozent. Und das Ende der Fahnenstange ist noch lange nicht abzusehen. Der Wettlauf der Bundesländer um die höchsten Ausbauziele hält auch in Ostdeutschland an. Machen wir so weiter, erreicht die installierte Leistung bis 2020 das Dreifache der Höchstlast mit gravierenden Folgen für die Sicherheit und Bezahlbarkeit der Stromversorgung.
Welche Auswirkungen hat der Ausbau der erneuerbaren Energien für die Stromnetze?
Die Stromnetze in Ostdeutschland waren in der Vergangenheit stark auf die traditionelle Stromerzeugung aus Braunkohle als wichtigster regionaler Energiequelle mit wenigen zentralen Großkraftwerken in Verbrauchernähe ausgelegt. Heute sieht die Energielandschaft vollkommen anders aus. Viele große und kleine Anlagen zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien prägen inzwischen die Landschaft. Sie entstehen ohne Rücksichtnahme auf die bestehenden Stromnetze. Der Ausbau der Netze hält wie angesprochen mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien nach wie vor nicht Schritt. Ein Solarpark ist in 6 bis 12 Monaten errichtet und hat einen Anspruch darauf, ans Netz angeschlossen zu werden. Für die entsprechenden Leitungen brauchen wir 3 bis 5 Jahre. Und bei Bürgerprotesten, die zunehmen, wird der Prozess noch länger. Die Folge ist eine Überlastung der Netze, die durch witterungsbedingte Schwankungen der Stromeinspeisung aus Wind- und Sonnenenergie weiter verschärft wird. Besonders von Netzengpässen betroffen sind die Verteilnetze (Hoch-, Mittel-, Niederspannungsnetze), an die mehr als 90 Prozent der Anlagen zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien im Binnenland angeschlossen sind. Zur Vermeidung eines Netzkollaps sind die Netzbetreiber immer häufiger gezwungen, die Stromerzeugung zu drosseln. Allein bei unserem Netzbetreiber MITNETZ STROM als größtem regionalen Verteilnetzbetreiber in Ostdeutschland war dies 2012 knapp 100-mal der Fall.
Die Energiewende verlangt demzufolge einen raschen Ausbau der Stromnetze?
Es steht außer Frage. Wo eine Verstärkung bestehender Netze nicht ausreicht, ist ein Netzausbau ohne Alternative. Zusätzlich ist wie beschrieben ein reibungslos funktionierendes Netzsicherheitsmanagement erforderlich. Dies alles hat seinen Preis, den die Stromverbraucher über die Netzentgelte und damit über den Strompreis bezahlen. Allein im Übertragungsnetz (Höchstspanungsnetz) müssen laut Bundesnetzagentur für die Energiewende in den kommenden 20 Jahren mehr als 9.000 Kilometer neu- oder umgebaut werden. Bei den regionalen Verteilnetzen ist der Ausbaubedarf um ein Vielfaches höher. Hier müssen nach einer Studie der Deutschen Energie-Agentur (dena) bis 2030 noch einmal etwa 150.000 bis über 200.000 Kilometer nachgerüstet werden. Die Kosten belaufen sich auf 30 bis 40 Milliarden Euro, von denen rund 13,5 Milliarden Euro auf Ostdeutschland entfallen. Um hier planvoll vorzugehen, haben die ostdeutschen Netzbetreiber, darunter MITNETZ STROM, einen Ausbauplan für die 110 kV-Ebene vorgelegt. Ohne Netzausbau werden wir – solange die Speicherthematik nicht großtechnisch und zugleich wirtschaftlich gelöst ist – den Umbau der Energieversorgung nicht schaffen.
Gemeinsam mit der Universität Leipzig hat enviaM 2013 zum zweiten Mal die Studie „Energiewelt Ost“ durchgeführt, in der die Einstellung der Haushalte, Unternehmen und Kommunen in Ostdeutschland zur Energiewende abgefragt wurde. Was sind die zentralen Erge
Die breite Mehrheit der Bürger in Ostdeutschland befürwortet weiterhin die Energiewende. 76 Prozent halten den Umbau der Energieversorgung nach wie vor für sinnvoll. Ähnlich positiv sehen die Kommunen den Wandel der Energieversorgung. 71 Prozent bejahen die damit zusammenhängenden Maßnahmen. Deutlich skeptischer sind die Unternehmen. Nur 47 Prozent sind mit der Vorgehensweise einverstanden. Die hohe Zustimmung zeigt, dass in Ostdeutschland weiterhin ein positives Klima für den Umbau der Energieversorgung herrscht. Ohne die Städte und Gemeinden, die die Beschlüsse von Bund und Ländern vor Ort umzusetzen haben, ist ein Gelingen der Energiewende nicht möglich. Ähnlich verhält es sich bei den Bürgern, deren Akzeptanz ebenfalls entscheidend für den Erfolg des Projektes ist. Ernst zu nehmen sind nach wie vor die stark verbreiteten Bedenken der Betriebe.
Welche Forderungen stellen die in der Studie befragten Haushalte?
Damit die Energiewende gelingt, ist aus Sicht der Bevölkerung am wichtigsten, dass die verschiedenen politischen Konzepte besser miteinander abgestimmt werden. Zudem habe der Staat stärker darauf zu achten, die Bevölkerung beim Umbau der Energieversorgung besser mitzunehmen. Die Bürger hinterfragen auch immer stärker die Bezahlbarkeit der Energiewende. Eine überwiegende Mehrheit fordert, Steuern, Abgaben und Umlagen auf den Strompreis zu reduzieren. Über die Hälfte der Bürger lehnt deshalb eine weitere Erhöhung der Strompreise im Zuge der Energiewende ab. Am Thema Strompreise wird sich aus meiner Sicht künftig auch die langfristige Akzeptanz der Energiewende entscheiden.
Was muss die neue Bundesregierung für das Gelingen der Energiewende jetzt angehen?
Ich kann mich den in der Studie „Energiewelt Ost“ genannten Forderungen der Bürger in vielen Punkten anschließen. Eine bessere Koordination der politischen Akteure bei der Umsetzung der Energiewende ist zwingend erforderlich. Die Blockade von Bund und Ländern bei wichtigen Reformvorhaben muss ein Ende haben. Mit Blick auf das Zieldreieck der Energiewirtschaft muss vor allem der Sicherheit und Wirtschaftlichkeit der Energieversorgung mehr Beachtung geschenkt werden. Bei den Strompreisen ist wie die Bevölkerung in Ostdeutschland zu Recht beklagt die Schmerzgrenze eindeutig überschritten. Seit der Liberalisierung des Strommarktes sind Steuern, Abgaben und Umlagen um mehr als 240 Prozent gestiegen. Dafür trägt die Politik die Verantwortung. Strom muss für alle Verbraucher bezahlbar bleiben. Wir benötigen deshalb dringend eine grundlegende Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) nach marktwirtschaftlichen Prämissen. Die großen Mengen subventionierten grünen Stroms haben den Preismechanismus im Strommarkt zerstört. Nur durch die künftig stärkere Koppelung der Förderung der erneuerbaren Energien an den Marktpreis kann der Kostenexplosion entgegengewirkt werden. Zusätzlich muss das Zusammenspiel zwischen konventionellen und erneuerbaren Energien wirtschaftlich sinnvoll gestaltet werden. Der heutige Strommarkt vergütet nur produzierte Megawattstunden, aber keine sichere Versorgung. Er sollte deshalb perspektivisch um ein Marktsegment ergänzt werden, welches der gesicherten Kraftwerksleistung und damit der Versorgungssicherheit einen ökonomischen Wert beimisst.
Welcher Weg sollte bei der Reform des EEG beschritten werden?
Ich bin ebenso wie viele andere dafür, die Förderung der erneuerbaren Energien an den Marktpreis zu koppeln. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) hat dazu kürzlich entsprechende Vorschläge vorgelegt, die ich unterstütze. Für mich ist das Marktprämienmodell der richtige Ansatz, zumal es aus dem heutigen EEG entwickelt werden kann. Es versetzt die Politik in die Lage, die Kosten und die Geschwindigkeit des Ausbaus der erneuerbaren Energien zu kontrollieren. Genau das brauchen wir jetzt. Angesichts des immensen Kapitalbedarfs muss der Ausbau der erneuerbaren Energien zudem an den Ausbau der Netze gekoppelt werden. Erneuerbare Energien sollten im Binnenland nach Möglichkeit nur dort angesiedelt werden, wo eine entsprechende Nachfrage besteht. Die Anlagenbetreiber müssen sich an den Netzausbaukosten beteiligen und mehr zur Systemintegration beitragen. Ihre Befreiung von den Netzentgelten und der EEG-Umlage ist abzuschaffen. Auf diese Weise könnte dem Negativtrend der Entsolidarisierung bei den Kosten der Energiewende wirkungsvoll begegnet werden. Es kann nicht sein, dass nur die Stromverbraucher zur Kasse gebeten werden. Auch die Anlagenbetreiber müssen in die Pflicht genommen werden.
Herr Giesting, Sie formulierten kürzlich, ohne Regionalversorger keine Energiewende. Woraus leiten Sie diese Aussage ab?
Die erwähnte zentrale Stellung der regionalen Verteilnetzbetreiber bei der Stromeinspeisung aus erneuerbaren Energien steht stellvertretend für die Schlüsselrolle, die die regionalen Energieversorger beim Umbau der Energieversorgung spielen. Als „Regionalwerke“ bilden diese das Bindeglied zwischen ländlichen Räumen und städtischen Ballungszentren.
Mit ihrer Wertschöpfung leisten die regionalen Energieversorger gerade in strukturschwachen Gebieten einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Ihre kommunalfreundliche Ausrichtung kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass Städte und Gemeinden als Gesellschafter die Unternehmenspolitik der regionalen Energiedienstleister entscheidend mitbestimmen. www.enviam.de
www.energiezukunft-ostdeutschland.de