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< Bewegung im internationalen Wasserstoffmarkt: Wasserstoff global gedacht
02.06.2021 15:23 Alter: 3 yrs

Investitions- und Modernisierungsprogramm Für ein klimaneutrales Deutschland 2045

Deutschland will bis 2045 seine Emissionen auf null senken. Der Direktor der Denkfabrik Agora Energiewende, Dr. Patrick Graichen, erklärt in seinem Gastbeitrag für THEMEN!magazin, warum das gut fürs Klima und für den Wirtschaftsstandort Deutschland zugleich ist.


Dr. Patrick Graichen, Direktor, Agora Energiewende Foto: Agora

„Die globalen Leitmärkte in Nord-Amerika, Europa und Asien orientieren sich bereits jetzt am Leitbild der Klimaneutralität. Wenn die deutsche Industrie der Technologielieferant für die Welt in Sachen Klimaneutralität sein will, muss sie der Entwicklung in anderen Ländern immer ein Stück voraus sein.“ Dr. Patrick Graichen

Mit seinem wegeweisenden Beschluss Ende April hat das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung Nachbesserungen beim Klimaschutz verordnet. Zentraler Kritikpunkt aus Karlsruhe an der aktuellen Gesetzgebung war der Aufschub von Emissionsminderungen in die Zukunft zu Lasten der jüngeren Generationen – etwa durch fehlende konkrete Klimaziele für die Zeit nach 2030. Auch wenn die genaue Überarbeitung des Klimaschutzgesetzes noch diskutiert wird - dass Deutschland schon 2045 und damit fünf Jahre früher als geplant treibhausgasneutral werden soll, ist als Ziel gesetzt. Auch dass das 2030-Klimaziel auf -65 % Treibhausgasemissionen im Vergleich zu 1990 statt der bisherigen -55 % erhöht wird. Es braucht jetzt eindeutig mehr Tempo und ein Klimaschutz-Sofortprogramm für die einzelnen Sektoren Energiewirtschaft, Gebäude, Verkehr, Industrie, Landwirtschaft. So ist bis 2040 eine Emissionsminderung um 90 % nötig.

Deutschland als globaler Technologieführer im Klimaschutz

Wie diese schnellere Transformation zur Klimaneutralität gelingen und auch der Wirtschaft nützen kann, zeigt unsere jüngst veröffentlichte Studie „Klimaneutrales Deutschland 2045“, die wir von Agora Energiewende gemeinsam mit Agora Verkehrswende und der Stiftung Klimaneutralität veröffentlicht haben. Um das um fünf Jahre vorgezogene Zieljahr zu erreichen, – was knapp eine Milliarde Tonnen CO₂-Emissionen im Vergleich zur Klimaneutralität 2050 einspart – braucht es ein großes Investitions- und Modernisierungsprogramm. Das Minderungsziel von 65 % bis 2030 kann die Voraussetzungen für eine beschleunigte Transformation nach 2030 schaffen. Fährt man Klimaschutztechnologien wie Energieeffizienz, Erneuerbare Energien, Elektrifizierung und Wasserstoff ab 2030 schneller hoch, kann dadurch allein in Deutschland ein Markt für Erneuerbare Energien von etwa 30 Gigawatt pro Jahr und eine Sanierungsrate von 1,75 % pro Jahr entstehen. Das ist gut fürs Klima und für den Standort Deutschland zugleich. Denn die globalen Leitmärkte in Nord-Amerika, Europa und Asien orientieren sich bereits jetzt am Leitbild der Klimaneutralität. Wenn die deutsche Industrie der Technologielieferant für die Welt in Sachen Klimaneutralität sein will, muss sie der Entwicklung in anderen Ländern immer ein Stück voraus sein.

Was in den zentralen Sektoren passieren muss

Die Studie „Klimaneutrales Deutschland 2045“ zeigt auf, was dieses zusätzliche Tempo für die wichtigsten Wirtschaftssektoren im Einzelnen bedeutet: So werden in der Energiewirtschaft Erneuerbare Energien stärker und schneller ausgebaut. Der Stromverbrauch wächst von heute bis 2045 um knapp 60 % auf etwa 1.000 Terawattstunden – vor allem durch die weitere Elektrifizierung sowie die steigende inländische Herstellung von grünem Wasserstoff. Der Fokus des Zubaus an Erneuerbaren Energien liegt auf der Windenergie und der Photovoltaik. Die im Jahr 2045 benötigte installierte Leistung von Photovoltaikanlagen beträgt 385 Gigawatt. Für Windenergie an Land ist im Jahr 2045 eine Erzeugungskapazität von 145 Gigawatt erforderlich, in den nächsten 25 Jahren wird zudem der Ausbau von Windenergie auf See auf 70 Gigawatt gesteigert. Grüner Wasserstoff gewinnt zunehmend an Bedeutung und löst nach 2040 Erdgas als wichtigsten Energieträger für die regelbare Stromerzeugung ab – und kommt in Zeiten, wo weder ausreichend Sonnen- noch Windenergie zur Verfügung stehen, in Backup-Kraftwerken zum Einsatz. In der Industrie setzt sich der Trend hin zu Strom und grünem Wasserstoff sowie teilweise Biomasse als Energieträger fort, so dass die Industrie bis zum Jahr 2040 weitestgehend klimaneutral ist. Auch die chemischen Rohstoffe (Feedstocks) werden schon ab 2030 sukzessive durch chemisches Recycling und synthetische, auf nicht-fossilem CO₂ beruhende Einsatzstoffe ersetzt. Im Gebäudebereich wird die Sanierungsaktivität kontinuierlich beschleunigt. Die auf den Gesamtwohnungsbestand bezogene mittlere jährliche Sanierungsrate steigt von heute 1,1 % auf etwa 1,6 % bis Ende der 2020er Jahre und im Zeitraum 2030 bis 2045 dann auf annähernd 1,75 %. Gleichzeitig wird die Marktdurchdringung von Wärmepumpen und der Ausbau der grünen Nah- und Fernwärme zum Standard – Heizen mit Öl und Gas gehört der Vergangenheit an. Im Verkehr geht alles in Richtung Elektromobilität. Bereits ab dem Jahr 2032 werden keine Pkw mit Verbrennungsmotor mehr zugelassen. Bis zum Jahr 2045 werden dann auch im Pkw-Bestand – bis auf einige Oldtimer – alle Fahrzeuge E-Autos sein. Auch der Straßengüterverkehr wird innerhalb der nächsten 25 Jahre auf elektrische Lkw, Oberleitungs- und Brennstoffzellenfahrzeuge umgestellt, ebenso wie Bus und Bahn. Insgesamt verbleibt die Personenverkehrsleistung dabei in etwa auf dem heutigen Niveau, die Güterverkehrsleistung steigt aufgrund des Wirtschaftswachstums weiter an. Der technologische Wandel muss auch einher gehen mit einem Wandel im Mobilitätsverständnis: mit weniger privaten Pkw und mehr öffentlichen und geteilten Verkehrsmitteln. In der Landwirtschaft werden bis 2045 wesentliche Minderungen über den Umbau der Tierbestände und die Vergärung hoher Wirtschaftsdüngeranteile in Biogasanlagen erreicht. Wichtig für eine schnellere Klimaneutralität ist zudem die konsequente Fortschreibung aktueller Trends hin zu einer steigenden Nachfrage nach Ersatzprodukten für Fleisch und Milch. Diese steigt bis zum Jahr 2045 auf einen Anteil von 15 % am gesamten Verbrauch. Für dieses Marktsegment lässt sich bereits heute eine dynamische Entwicklung beobachten.

Mit diesen Schritten ist eine Reduktion der Treibhausgasemissionen um 95 % möglich. Die restlichen 5 % sind so genannte nicht vermeidbare Restemissionen – durch biologische Prozesse in Böden oder bei der Tierhaltung, bei industriellen Prozessen und in der Abfallwirtschaft. Diese lassen sich durch Negativemissionstechnologien wie zum Beispiel der Abscheidung und geologischen Lagerung von CO₂ bis 2045 aus der Atmosphäre entfernen.

Grafik: Agora Energiewemde (2021) auf Basis Agora Energiewende, Agora Verkehrswende, Stiftung Klimaneutralität: Klimaneutrales Deutschland 2045

Die Studie „Klimaneutrales Deutschland 2045“ wurde im Auftrag der Stiftung Klimaneutralität, Agora Energiewende und Agora Verkehrswende von der Prognos AG, dem Öko-Institut und dem Wuppertal Institut erstellt. Die Zusammenfassung mit Ergebnissen und SzenarioAnnahmen steht unter www. agora-energiewende.de zum kostenfreien Download bereit.

Ein Sofortprogramm für den Klimaschutz

Die neue Regierung – egal wie sie sich zusammensetzt – wird unmittelbar in den ersten 100 Tagen mit einem Sofortprogramm handeln müssen. Denn die vom Bundesverfassungsgericht verlangten, höheren Klimaziele werden nur durch entschlossene Politik erreicht.

Es gilt, den Ausbau der Erneuerbaren Energien zu entfesseln, die E-Mobilität ebenso wie CO₂-freies Heizen voranzubringen, eine grüne Wasserstoffwirtschaft in der Industrie zu etablieren und die Landwirtschaft auf einen klimaverträglichen Weg zu bringen. Nur dann kann Deutschland das Ziel der Klimaneutralität in 2045 erreichen und zugleich die Technologieführerschaft für klimaneutrale Technologien beanspruchen.