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20.04.2021 08:18 Alter: 4 yrs

Mehr Erneuerbare für mehr Industriearbeitsplätze

Der Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz will die Vorreiterrolle des Nordosten Deutschlands als „Grünes Kraftwerk“ stärken. Dazu sind hohe Investitionen in die Netzinfrastruktur, in Digitalisierung und Flexibilisierung notwendig. Vor allem aber braucht es dafür mehr Erneuerbare Energien. Stefan Kapferer, CEO von 50Hertz Transmission GmbH, spricht im THEMEN!magazin über die Beschleunigung der Energiewende und die Dekarbonisierung der Industrie – und was dafür getan werden muss.


Stefan Kapferer, CEO, 50Hertz Transmission GmbH Foto: Jan Pauls Fotografie

„50Hertz will zukünftig früher in die Kommunikation mit potenziellen Kunden gehen und hat dazu Projekte zur Optimierung von Netzanschlussprozessen aufgesetzt. Wir sehen uns im Rahmen der regulatorisch vorgegebenen Abläufe als Enabler und wollen dazu beitragen, dass Erzeuger Erneuerbarer Energien und industrielle Abnehmer schneller zum Ziel kommen als bisher. Und diese Ziele heißen: mehr grünen Strom erzeugen und mehr grünen Strom nutzen.“

Herr Kapferer, 50Hertz hat im Sommer 2020 die industrie- und klimapolitische Initiative „Von 60 auf 100 bis 2032 – neue Energie für eine starke Wirtschaft“ gestartet. Wie weit sind Sie inzwischen gekommen?

Bei der Anfangszahl können wir schon ein wenig weiterdrehen. Wir liegen jetzt bei 62 Prozent Anteil Strom aus Erneuerbaren am gesamten Stromverbrauch in unserem Netzgebiet. Damit es schneller vorangeht haben wir zusammen mit der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) kürzlich mehrere Ministerpräsidenten, Minister und Staatssekretäre aus unserem Netzgebiet und die Spitzen wichtiger Branchenverbände beim Kick Off zu einer Round-Table-Reihe zu Gast gehabt.

Alle waren sich einig, dass es jetzt nach dem Beginn des Kohleausstiegs einen schnellen Einstieg in neue Technologien der Sektorkopplung geben muss und dafür mehr Erneuerbare und eine gute Netzinfrastruktur erforderlich sind. Es ist kein gutes Signal, wenn unsere Chemie- oder Stahlwerke ihre Prozesse dekarbonisieren wollen – es aber an Genehmigungsverfahren für Windenergieanlagen oder Leitungsanschlüssen hapert. Wir müssen jetzt an mehreren Stellen schneller werden. Deshalb setzen wir unsere Round-Table-Reihe mit verschiedenen Branchen und der Politik fort, um weitere Stellschrauben zu identifizieren – und auch daran zu drehen. Und 50Hertz selbst trägt auch dazu bei: Wir werden 4,7 Milliarden Euro bis 2025 in die Stromnetz-Infrastruktur investieren, also jedes Jahr fast eine Milliarde Euro.

Was läuft momentan positiv – und was weniger gut? Der Nordosten Deutschlands ist ja bereits heute ein „Grünes Kraftwerk“ der Energiewende.

Positiv läuft es bei der Photovoltaik. Hier wurden im vergangenen Jahr über 1,3 GW zusätzliche Leistung installiert und wir sehen neben den vielen Dachanlagen auf Ein- und Zweifamilienhäusern auch große Freiflächenprojekte in der Pipeline. Neu daran ist, dass diese Projekte überwiegend ohne EEG-Vergütung geplant werden und dass aufgrund ihrer hohen Leistung ein Anschluss direkt am Höchstspannungsnetz erforderlich sein könnte. Die Systempreise für PV erlauben bei Anlagen dieser Größenordnung mittlerweile eine Stromvermarktung im Wettbewerb. Das freut natürlich ganz besonders jemanden wie mich, der ein überzeugter Anhänger von Marktmechanismen ist.

Und die Schattenseite?

… ist die Windenergie sowohl On- als auch Offshore. Im letzten Jahr sind zwar an Land rund 427 MW dazugekommen und damit etwas mehr als im schwachen Jahr 2019. Aber es ist deutlich zu wenig, wenn wir 2032 bei 100 Prozent landen wollen. Selbst die Pfade, die im aktuellen Entwurf des Netzentwicklungsplans 2035 vorgezeichnet sind, würde man bei diesem Ausbautempo nicht erreichen. Mindestens eine Verdoppelung der jährlichen Zubauzahlen brauchen wir bei Windenergie an Land.

Bei Wind auf See sehe ich derzeit eine deutliche Diskrepanz zwischen dem 90 GW-Potenzial, das die Europäische Union, die Ostsee-Anrainerstaaten und die jeweiligen Übertragungsnetzbetreiber für die gesamte Ostsee identifiziert haben – und dem, was sich vor der deutschen Ostseeküste abzeichnet. Nach dem derzeitigen Flächenentwicklungsplan käme der Ausbau der Offshore- Windenergie in der deutschen Ostsee nach 2026 zum Erliegen. Wir halten es für möglich, drei weitere Gigawatt auf unterschiedlichen Flächen in der deutschen Ostsee zu realisieren, ohne dass es zu ernsthaften Nutzungskonflikten mit anderen Interessen kommt.

Der Netzausbau wird seit langem als Schwachpunkt der Energiewende gesehen. Teilen Sie diese Meinung?

Manchmal verfestigen sich leider Meinungsbilder – die Realität sieht hingegen positiver aus. 50Hertz hat inzwischen 373 Kilometer der Projekte aus dem EnLAG und dem BBPG umgesetzt, fast 1.200 Kilometer sind im Bau, genehmigt oder im Prozess vorangeschritten. Wir liefern also. So wird Strom aus Erneuerbaren Energien bei uns immer seltener abgeregelt und es muss immer weniger Redispatch angeordnet werden. Innerhalb von fünf Jahren haben wir beim Engpassmanagement die Kosten von 350 auf nunmehr 33 Mio. Euro pro Jahr reduziert. Das zeigt: Netzausbau kommt voran und wirkt!

Wir haben im vergangenen Jahr den weltweit ersten hybriden Interkonnektor in der Ostsee ans Netz gebracht. Die Combined Grid Solution verbindet Deutschland und Dänemark unter Einschluss zweier Offshore-Windparks. Weitere Seeverbindungen mit Skandinavien sind im Genehmigungsverfahren, und wir sondieren gerade mit unserem Partner, dem dänischen Netzbetreiber Energinet, wie wir gemeinsam die sogenannte Energy Island Bornholm realisieren können.

An Land bauen und verstärken wir an sehr vielen Stellen. Mit der Uckermark-Leitung und am Nordring Berlin kommen wir voran, bei der Kabeldiagonale Berlin starten in diesem Jahr die Tunnelvortriebsarbeiten, der SuedOst- Link befindet sich in der Planfeststellung und im gesam-ten Netzgebiet nehmen wir an unseren Leitungen kontinuierlich Optimierungs- und Verstärkungsmaßnahmen vor. Daher haben wir unser Investitionsvolumen für die Jahre bis 2025 um fast zwei Milliarden Euro gegenüber dem zurückliegenden Fünfjahreszeitraum erhöht.

Große Infrastrukturprojekte dauern in Deutschland extrem lange von der Planung über die Genehmigung bis zur Inbetriebnahme. Wie kann man den Netzausbau beschleunigen, ohne neue Gesetze zu beschließen?

Nadelöhre sind Verwaltungs- und Gerichtsverfahren. Und dafür haben wir Lösungsansätze: Das Bundesverwaltungsgericht ist die derzeit erste Instanz und muss Tatsachen ermitteln. Das kostet Zeit und Ressourcen, selbst Eilverfahren dauern sehr lange. Unser Vorschlag ist, dass am BVerwG zwei Senate eingerichtet werden, die sich ausschließlich mit energierechtlichen Genehmigungsverfahren beschäftigen. Es ist doch grundsätzlich besser für alle Beteiligten, in einem transparenten Prozess klare Verhältnisse zu schaffen, als endlose Phasen der Rechtsunsicherheit zu ertragen.

Bei den Landesverwaltungen können Projektmanager ganz pragmatisch zur Entlastung beitragen. Dieses Instrument steht den Behörden zu, die Kosten übernimmt der Vorhabenträger. Diese externen Manager unterliegen den Weisungen der Behörden und können schnell eingesetzt werden, wenn es an eigenem Personal mangelt. Wir appellieren an die Länder, dieses Instrument stärker zu nutzen und einzusetzen.

Und drittens sind wir für eine Auseinandersetzung mit offenem Visier. So sollten nur solche Verbände eine Klagemöglichkeit haben, die bereits zuvor in einem Genehmigungsverfahren Einwände erhoben haben. Das jetzige Verfahren ist eine Einladung zum juristischen Taktieren und schadet letztlich der demokratischen Auseinandersetzung.

Sie adressieren mit Ihrer Beschleunigungsstrategie vor allem die Industrie im Osten Deutschlands und in Hamburg. Wie passen die beiden Stränge „mehr Erneuerbare – mehr Industrie“ zusammen?

Die passen perfekt zusammen. In unserem Netzgebiet sind in den vergangenen zehn Jahren über 100.000 Industriearbeitsplätze entstanden. In Hamburg, im mitteldeutschen Chemierevier, im Großraum Berlin und natürlich in Sachsen und Thüringen. Der Kohleausstieg hat in diesem Jahr begonnen und jetzt brauchen wir einen starken Impuls, damit diese Industrien mit „grünem“ Strom weiter wachsen sowie Arbeitsplätze erhalten und schaffen können.

Und weil es sich dabei um Verbraucher mit hohem Strombedarf handelt, sind wir als Übertragungsnetzbetreiber natürlich gefragt, die erforderliche Netzinfrastruktur bereitzustellen. Die Kundenstruktur eines Übertragungsnetzbetreibers war bisher eher statisch. Konventionelle Kraftwerke und große Windparks auf der einen Seite, große Industriebetriebe wie Stahlwerke auf der anderen Seite. Ausbau der Erneuerbaren, Digitalisierung und Wasserstoff bringen jetzt neue Dynamik hinein, weil eine Stromversorgung über die Mittel- und Hochspannungsebene oft nicht mehr ausreicht, sondern ein 220 kV- oder gleich ein 380 kV-Anschluss erforderlich ist. Das gilt für große Rechenzentren ebenso wie für Elektrolyseure oder Chemieunternehmen, die ihre Prozesse dekarbonisieren wollen. Und wir machen Nägel mit Köpfen: Auf die zu erwartende erhöhte Grünstrom-Nachfrage der Chemieindustrie im Umfeld von Leuna haben wir im aktuellen ersten Entwurf des NEP 2035 bereits reagiert.

Herr Kapferer, wir bedanken uns für das Gespräch.

www.50Hertz.com

50Hertz

Foto: Jan Pauls Fotografie

Arkona, die Offshore- Plattform in der Ostsee mit Hubschrauberlandeplatz,