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21.06.2019 12:05 Alter: 5 yrs

Erst Netzausbau senkt Netzreservebedarf

Die Netzreserveverordnung (NetzResV) sieht vor, dass die Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) jährlich eine sogenannte Systemanalyse durchführen, um die zukünftig erforderliche Kraftwerksreservekapazität für netzstabilisierende Redispatch-Maßnahmen festzustellen.


Jochen Homann, Präsident der Bundesnetzagentur unterstreicht bei der kürzlich bestätigten erforderlichen Netzreserve für das kommende Winterhalbjahr 2019/2020 und das Jahr 2022/2023: Erst Netzausbau wird den Netzreservebedarf signifikant senken.

Unsere Hauptstadtredaktion sprach mit ihm zum Thema Netzreservebedarf.

Foto: Laurence Chaperon

Herr Homann, welche Botschaft vermittelt der aktuelle Bericht und die Systemanalyse der Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB)?

Der Bericht der Bundesnetzagentur vom 30. April 2019 behandelt die Ermittlung des Bedarfs an Netzreservekraftwerken für den Winter 2019/2020 und das Jahr 2022/2023. Die Übertragungsnetzbetreiber hatten der Bundesnetzagentur am 28. Februar 2019 ihre Systemanalyse und den daraus resultierenden Bedarf an Netzreservekraftwerken zur Bestätigung vorgelegt. Die Bundesnetzagentur hat den Bedarf antragsgemäß bestätigt.

Für den Winter 2019/2020 beträgt der Bedarf an Erzeugungskapazitäten aus Netzreservekraftwerken 5.126 MW. Im Jahr 2022/2023 werden nach vorläufigem Stand Netzreservekraftwerke mit einer Gesamtleistung von 10.647 benötigt. Allerdings erfolgte die Ermittlung dieses Bedarfs noch ohne Berücksichtigung der Empfehlung der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ vom 26.01.2019, im Jahr 2022 die Leistung der Kohlekraftwerke im Markt auf rund 15 GW Braunkohle und rund 15 GW Steinkohle zu reduzieren. Künftige Bedarfsermittlungen werden die Umsetzung dieser Empfehlungen und den dann zu erwartenden Kraftwerkspark und Netzausbaustand berücksichtigen. Durch die jährliche Bedarfsanalyse ist sichergestellt, dass dies in dem Fall rechtzeitig erfolgt.

Wie sieht die BNetzA die Aussicht für den Winter 2019/2020?

Es besteht auch für das kommende Winterhalbjahr wieder ein Bedarf an Netzreserve. Dieser Bedarf kann aber aus inländischen Reservekraftwerken gedeckt werden. Wie im vergangenen Jahr muss von den deutschen Übertragungsnetzbetreibern keine Leistung aus ausländischen Kraftwerken beschafft werden. Allerdings gibt es nach wie vor einen Bedarf an Netzreserve, um das deutsche Stromnetz in kritischen Situationen für die Versorgungssicherheit stabil zu halten. Und es verdeutlicht noch einmal die Notwendigkeit eines zügigen Netzausbaus in Deutschland.

Ein wichtiger Grund liegt in den Fortschritten bei der effizienteren Ausnutzung des vorhandenen Netzes, vor allem hinsichtlich des witterungsabhängigen Freileitungsmonitorings. Hierbei wird die Leitungsauslastung der Außentemperatur angepasst.

Zudem hat die Fertigstellung der Leitungen Hamburg/Nord-Dollern, Elbekreuzung, St. Peter-Norf, Wehrendorf-St. Hülfe sowie Fellerhöfe- St. Tönies wie erwartet dazu beigetragen, den Netzreservebedarf zu senken. Dies unterstreicht die Bedeutung des Netzausbaus nach Ausschöpfung von Effizienzreserven.

Trotzdem wird ein signifikanter Wiederanstieg des Netzreservebedarfs benannt?

Zusätzlich wird regelmäßig der Bedarf für einen weiter in der Zukunft liegenden Winter ermittelt. Für den diesmal betrachteten Winter 2022/2023 beträgt der Netzreservebedarf wie bereits benannt 10.647 Megawatt. Der deutliche Anstieg gegenüber dem Winter 2019/2020 hat folgende Gründe:
1. Nach der neuen europäischen Stromhandelsverordnung von 2019 muss der Umfang an Transportkapazitäten, der Stromhändlern für den grenzüberschreitenden Stromhandel zur Verfügung steht, in den nächsten Jahren schrittweise erhöht werden. Um diese zusätzlichen Kapazitäten bereitzustellen, werden die Übertragungsnetzbetreiber regelmäßig Redispatch-Maßnahmen durchführen müssen. Die erfolgreiche Umsetzung des geplanten Netzausbaus bleibt also wesentliche Bedingung dafür, die erwarteten Steigerungen infolge der verpflichtenden Kapazitätssteigerungen an den Grenzen bis zum Jahr 2025 zu dämpfen und langfristig die Netzreserve abzulösen.
2. Ende 2022 gehen die letzten Kernkraftwerke außer Betrieb. Hierdurch wird sich das Gefälle der installierten Erzeugungskapazitäten zwischen Nord- und Süddeutschland vergrößern. Eine dadurch bedingte Zunahme des Transportaufkommens zwischen dem erzeugungsreichen Norden und dem vergleichsweise erzeugungsarmen Süden Deutschlands erhöht ebenfalls den Redispatchbedarf.

Freileitung im Höchstspannungsnetz bei Bruchsal, Foto: TransnetBW

Wie steht es um die Erzeugungsleistung für Netzstabilität?

Die Vorhaltung der Netzreserve dient dazu, Überlastungen im Übertragungsnetz zu verhindern, die aufgrund des unzureichenden Netzausbaus bestehen. So muss bei hoher Stromnachfrage und einer gleichzeitig hohen Erzeugung aus Windenergieanlagen das überlastete Netz stabilisiert werden. Dann wird Erzeugungsleistung vor dem Engpass vermindert und gleichzeitig die Erzeugungsleistung hinter dem Engpass erhöht.

Dieser „Redispatch“ genannte Ausgleichsmechanismus wird zunächst mittels am Markt agierender Kraftwerke durchgeführt. In bestimmten Netzsituationen reichen diese Kraftwerke jedoch nicht zur Netzentlastung aus. Dann müssen zusätzlich Netzreservekraftwerke eingesetzt werden.

Die Netzreserve besteht aus zur Stilllegung angezeigten Kraftwerken, die systemrelevant sind und deshalb nicht stillgelegt werden dürfen. Allerdings können sie nicht mehr am Stromerzeugungsmarkt eingesetzt werden, sondern ausschließlich auf Anforderung der Netzbetreiber zum Redispatch. Die Netzreservekraftwerke sind dann nur noch relativ wenige Stunden eines Jahres in Betrieb.

Abschließend die Frage nach der Kontrahierung ausländischer Kraftwerke?

Der ermittelte Netzreservebedarf im Winter 2022/2023 ist zwar höher als die zu diesem Zeitpunkt voraussichtlich verfügbare Leistung inländischer Netzreservekraftwerke. Von einem Interessenbekundungsverfahren zur Beschaffung von Netzreserveanlagen aus ausländischen Kraftwerken wird derzeit allerdings noch abgesehen. Ein Grund dafür ist u. a., dass der Bedarf für den Winter 22/23 noch mit hohen Unsicherheiten behaftet ist.

Auch ist noch offen, in welchem Umfang zur Deckung des Redispatchbedarfs tatsächlich auf vertragliche Netzreservekraftwerke zurückgegriffen werden muss oder ob ein regional koordinierter Redispatch mit den Übertragungsnetzbetreibern der Nachbarländer einfachere und ebenso zuverlässige Lösungen erbringt.

Es ist zudem heute noch nicht absehbar, in welchem Umfang im Winter 2022/2023 Leitungen vorübergehend abgeschaltet werden müssen, um den Netzausbau in diesen Trassen zu ermöglichen. Netzüberlastungen, die durch den europäischen Stromhandel entstehen, muss auch mit gemeinsamen europäischen Lösungen begegnet werden. Wir halten an der Praxis fest, Netzreserve im Ausland erst zu kontrahieren, wenn die Bedarfsanalyse für den unmittelbar folgenden Winter einen entsprechenden Bedarf ergibt.