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28.04.2022 10:17 Alter: 2 yrs

Energiewende ist eine komplexe Gestaltungsaufgabe

Deutschland hat ehrgeizige Klimaziele formuliert und die Energiewirtschaft steht derzeit im Spannungsfeld zwischen langfristigen Zielen für eine umfassende Transformation in Richtung Klimaneutralität sowie kurzfristigen Herausforderungen hinsichtlich Versorgungssicherheit und Kosten. Aktuelle geopolitische Einflüsse wirken zusätzlich. Für THEMEN!magazin betrachtet Prof. Dr. Marc Oliver Bettzüge, Direktor des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität zu Köln (EWI), einige aktuelle Dimensionen dieser komplexen Gestaltungsaufgabe, insbesondere in politischer, energiewirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht.


Prof. Dr. Marc Oliver Bettzüge, Direktor, Energiewirtschaftliches Institut Uni Köln (EWI) Foto: EWI

„Die komplexe geopolitische und wirtschaftliche Lage, wie sie sich in den 2020er Jahren zu entwickeln scheint, erfordert eine differenziertere Energiestrategie als derzeit formuliert.“ Prof. Dr. Marc Oliver Bettzüge

Herr Prof. Bettzüge, europäische und nationale Klimaziele wurden erhöht, welche Anforderungen leiten sich daraus für die Energiewirtschaft ab?

Die strengeren europäischen Ziele werden die Zertifikate im EU-Emissionshandel zusätzlich verknappen. Entsprechende Preiseffekte waren bereits nach der Ankündigung des EU-Vorschlags zu Fit-for-55 zu beobachten. Eine aktuelle EWI-Analyse deutet langfristig darauf hin, dass die Zielverschärfung zu einer Preiserhöhung der EU-Emissionszertifikate um rund zwei Drittel gegenüber dem bisher zu erwartenden Preispfad führen könnte. Dadurch würden Kohlekraftwerke früher aus dem Markt gedrängt als bislang erwartet – vorausgesetzt, der Gasmarkt normalisiert sich im Laufe des Jahrzehnts wieder.

In Deutschland sollte der Kohleausstieg laut Koalitionsvertrag noch einmal beschleunigt werden. Dies war zumindest der Stand der Diskussion vor dem Krieg in der Ukraine. Da gleichzeitig die Stromnachfrage in Europa, unter anderem wegen der geplanten breiten Elektrifizierung von Verkehr und Wärme, eher steigen als sinken wird, müsste dringend Ersatzkapazität gebaut werden. Offen ist, ob der Aufbau der neuen Kapazität tatsächlich mit der Abschaltung von vorhandenen Kraftwerken wird Schritt halten können.

Kann mit dem EU-Vorschlag für einen CO2-Grenzausgleich ein „Level Playing Field“ erreicht werden?

Der CO2 -Grenzausgleich ist ein Instrument zum Ausgleich asymmetrischer Klimaschutzanstrengungen in der Welt. In der Theorie können damit Verwerfungen, die durch unilaterale Vorreiterrollen entstehen, vermieden werden. In der Praxis ergeben sich aber vielfältige Herausforderungen, zum Beispiel: Wird der Ausgleich auch auf Exporte gewährt - oder nur als Importzoll verstanden? Wie lassen sich CO2 -Emissionen auf Produkte in internationalen Wertschöpfungsketten anrechnen? Wie lassen sich solche Mechanismen WTO-konform gestalten? Wie geht man mit handelspolitischen Risiken um?

EU-Kommission und Rat glauben, dass sie geeignete Antworten auf diese und weitere kritische Fragen gefunden haben und wollen ein solches Ausgleichssystem für ausgewählte Branchen einführen. Es wird sich zeigen, ob man die industrie- und geopolitischen Risiken von Fit-for-55 damit angemessen abfangen kann.

Wie bewerten Sie die Aussagen des Koalitionsvertrages zum schnelleren Ausbau der Erneuerbaren sowie zusätzlicher Gaskraftwerke?

Die Bundesregierung wird nach dem Verzicht Deutschlands auf Kernenergie und perspektivisch auch auf die Kohleverstromung zwei wesentliche Alternativen für

die Stromerzeugung zur Verfügung haben: erneuerbare Energieträger und Gas (in all seinen Formen). Insofern ist der rasche Ausbau dieser beiden Technologieklassen die logische Konsequenz einer Politik, die auf Elektrifizierung einerseits und Atom- und Kohleausstieg andererseits setzt. Auch die verschärften sektoralen Klimaziele für den Sektor Energiewirtschaft aus dem Bundes-Klimaschutzgesetz legen diese Stoßrichtung nahe.

Die Risiken dieses Vorgehens sind jedoch erheblich, gerade auch in Verbindung mit der ebenfalls geplanten Beschleunigung der Elektrifizierung der Endenergie. Was passiert beispielsweise, wenn sich der geplante beschleunigte Ausbau von Wind- und Solarkraft trotz aller Mühe verzögert? Was in einem schlechten Wetterjahr? Und wie passt diese Strategie zur ebenfalls geplanten Reduktion der Abhängigkeit von (russischen) Erdgasimporten? Die komplexe geopolitische und wirtschaftliche Lage, wie sie sich in den 2020er Jahren zu entwickeln scheint, erfordert eine differenziertere Energiestrategie als derzeit formuliert.

Der steigende Anteil fluktuierender erneuerbarer Stromerzeugung birgt auch Risiken. Können Kapazitätsmärkte eine Lösung sein?

Das Elektrizitätssystem benötigt auch bei verdoppelter oder gar verdreifachter Wind- und Solareinspeisung zusätzliche gesicherte Leistung. Das EWI beispielsweise hat für ein Szenario, welches die Absichtserklärungen aus dem Koalitionsvertrag 2021 berücksichtigt, einen Neubaubedarf an wasserstofffähigen Gaskraft werken bis zum Jahr 2030 in Höhe von 23 GW errechnet. Zum Vergleich: Im Bau und in der Planung befinden sich aktuell rund 3 GW. Als Brennstoff steht diesen Kraftwerken zunächst nur Erdgas zur Verfügung, denn Wasserstoff ist in den benötigten Mengen weiterhin Musik für eine fernere Zukunft.

Das Risiko einer privatwirtschaftlichen Investition in ein Erdgas-Kraftwerk ist derzeit allerdings enorm, klima- wie geopolitisch – selbst wenn es wasserstofffähig ist. Daran wird auch die mit etlichen Auflagen versehene Aufnahme in die EU-Taxonomie nicht viel ändern. Insofern muss man davon ausgehen, dass die Allgemeinheit sich in irgendeiner Form an diesen Risiken wird beteiligen müssen - insbesondere, wenn sie den Kohleausstieg in der gewünschten Geschwindigkeit durchziehen möchte. Kapazitätsmärkte wären ein denkbares Instrument für eine solche Risikobeteiligung, aber es gibt auch andere Möglichkeiten.

Wenn die Energiewende auch eine Veränderung des Kapitalstocks erfordert, steht jetzt das Jahrzehnt der Investitionen an?

Theoretisch ja, und das nicht nur in der Energiewirtschaft, sondern auch in den Energieverbrauchssektoren. Praktisch liegen allerdings eine Menge Steine auf dem Weg der politisch angestrebten Transformation des Kapitalstocks. Insbesondere ist privates Kapital zwar prinzipiell vorhanden - aber die Eigenkapitalgeber müssen von der Rendite der zu tätigenden Investitionen überzeugt werden. Staatliches Geld kann da zwar helfen, doch die Mittel werden zunehmend knapp.

Zudem müssen die vielen Investitionen auch geeignet miteinander koordiniert werden, da sie Netz-Infrastrukturen nutzen, welche ebenfalls ausgebaut und angepasst werden müssen. Wer übernimmt diese Steuerungsaufgabe? Und dann ist da noch die Frage nach der Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft: Wenn so viel Kapital und Arbeitsstunden in den Umbau von Energieversorgung und -verbrauch fließen, welche Auswirkungen hat das auf die Wertschöpfung in den produktiven Sektoren der Volkswirtschaft? Zumal vor dem Hintergrund des vor uns liegenden starken Rückgangs des Arbeitskräftepotenzials aufgrund des demographischen Wandels?

Sehen Sie Auswirkungen der „EU-Gleichzeitigkeitsregel“ für erneuerbare Strom- und Wasserstoffproduktion hinsichtlich der Elektrolyseure?

Die sogenannte Gleichzeitigkeitsregel ist eine wichtige Stellgröße für die Definition, was „grüner“ Wasserstoff ist. Und sie beeinflusst die Wirtschaftlichkeit von Elektrolyseuren, wie eine EWI-Analyse kürzlich gezeigt hat. Die Politik steht vor einem Dilemma: Hohe Anforderungen an die Gleichzeitigkeit von EE-Stromeinspeisung und H2 -Elektrolyse erhöhen die „Grün-Merkmale“ des Wasserstoffs, senken aber die Wirtschaftlichkeit der Investition in den Elektrolyseur und umgekehrt. Offen bleibt, welchen Mehrwert die politische Unterscheidung zwischen gewünschten und weniger gewünschten Wasserstoff-Farben bringt. Wird die energetische Transformation dadurch günstiger oder schneller?

Kann die EU-Taxonomie zu einem bürokratischen Schwergewicht werden?

Die geplante EU-Taxonomie unterscheidet zwischen „guten“ und „unguten“ Investitionen und soll damit indirekt Investitionen lenken. Die Vorstellung, dass eine derartige Abwägung abschließend in einem staatlichen Regelwerk getroffen werden kann, mutet in der Tat bürokratisch an. Die daraus resultierenden vielfältigen Berichtspflichten und Unwägbarkeiten über die Auslegung von einzelnen Bestimmungen werden die unternehmerische Tätigkeit wohl eher behindern als fördern. Dabei ist der klimapolitische Mehrwert dieser Regelung zumindest für den Energiesektor nicht ohne weiteres offensichtlich. Denn tritt man einen Schritt zurück, so hat die EU mit dem EU-Emissionshandel (ETS) das größte wirksame Cap-and-Trade-System der Welt etabliert.

Der ETS erfasst insbesondere die Emissionen in der Energiewirtschaft fast vollständig. Sicherlich muss der Staat über die Signale des ETS hinaus an der einen oder anderen Stelle investitionslenkend eingreifen, aber dies könnte – wie bisher beispielsweise beim EEG – direkt und spezifisch geschehen. Wofür braucht es dann in diesem Sektor eine Taxonomie? Gerade angesichts der auch auf absehbare Zeit noch sehr hohen Bedeutung von fossilen Energieumwandlungen in Europa erscheint mir die kurzfristige Einführung eines solchen Regelwerks durchaus risikobehaftet.

Abschließend die Frage, ist angesichts der aktuellen Diskussion um sichere Energieversorgung das energiepolitische Zieldreieck für Deutschland noch eine Option?

Deutschland hat sich mit dem Bundes-Klimaschutzgesetz für fixe, unbedingte Emissionsziele entschieden. Damit ist eine der Dimensionen des energiepolitischen Ziel-Mehrecks der Abwägung gegenüber anderen Zielen enthoben worden: Alle anderen Ziele müssen nun innerhalb der gesetzten Emissionsbudgets erreicht werden.

„Um ihre ehrgeizigen Investitionsziele einer „großen Transformation“ zu erreichen, muss die Politik den Staat als einen verlässlichen, entscheidungsstarken Partner der Wirtschaft etablieren.“

Prof. Dr. Marc Oliver Bettzüge

Diese ohnehin schon anspruchsvolle Aufgabe wird zusätzlich erschwert, indem Deutschland sich über die europäischen Vorgaben hinaus nationale Emissionsgrenzen im europäischen Cap-and-Trade-System gesetzt hat und auf manch emissionsarme Technologien verzichten möchte. Zudem soll nun auch noch die Importabhängigkeit rasch gesenkt werden, vor allem von Russland. Die Bundesregierung steht vor einer großen Herausforderung, in einem derart eng gesetzten Rahmen eine wirtschaftliche und sichere Energieversorgung für Deutschland zu organisieren, vor allem in der kurzen und mittleren Frist.