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Energieversorgung der Zukunft : Wasserstoff und klimaneutrale Gase
Unter der neuen Bundesregierung könnten die politischen Karten in Fragen der zukünftigen Energieversorgung in Deutschland neu gemischt werden. Klar ist schon jetzt: Die Energie-, Klima- und Umweltpolitik rückt stärker als bisher in den Fokus politischen Handelns. In der Gesetzgebung muss und wird es Veränderungen geben. Dies haben sich die beteiligten Parteien fest vorgenommen, der öffentliche Druck auch außerhalb des Parlaments wird seinen Teil dazu beitragen. Wir sprachen aktuell zu den Anforderungen an künftige Politik mit Prof. Dr. Gerald Linke, Vorstandsvorsitzender des DVGW Deutscher Verein des Gas- und Wasserfaches e. V. und Präsident des Europäischen Forschungsinstituts für Gas- und Energieinnovation (ERIG).
„Der technologieoffene Markthochlauf von Wasserstoff und klimaneutralen Gasen leistet den volkswirtschaftlich bedeutendsten und für den Klimaschutz effektivsten Beitrag zur Energiewende. Diese Erkenntnis ist wissenschaftlich gesichert und sollte daher verbindliche Richtschnur politischen Handelns mit Blick auf die Energiewende sein.“ Prof. Dr. Gerald Linke
Prof. Linke, auf der gat/wat im November 2021, dem Branchentreff der Gas- und Wasserbranche, wird sicher über künftige Energiepolitik diskutiert. Welche Schwerpunkte markieren Sie aus Sicht des DVGW?
Energiewende und Klimaschutz haben inzwischen fast alle Bereiche des Lebens erfasst. Wenn bis zum Jahr 2030 der CO2 -Ausstoß in der EU um mindestens 55 Prozent gesenkt werden soll, müssen wir schon jetzt erkennen, mit welchen Maßnahmen dieses Ziel im Laufe der 20er Jahre erreicht werden kann, ohne dadurch die Aspekte der Versorgungssicherheit und der Bezahlbarkeit von Energie aus dem Blick zu verlieren. Gas spielt dabei heute wie morgen eine wichtige und unverzichtbare Rolle und trägt mit emissionsarmen Lösungen zum Erreichen der Klimaziele bei. Fest steht: Alleine durch Elektrifizierung wird die Lösung der Frage einer zukünftigen sicheren Energieversorgung in unseren Lande und auch über die nationalen Grenzen hinaus nicht gelingen.
Für unsere Energieversorger ist entscheidend, welche ordnungspolitische Unterstützung gasförmige Energieträger und gasbasierte Technologien erfahren, die CO2 - Emissionen effektiv senken können, und wie Wasserstoff in allen Sektoren maßgeblich dazu beitragen kann. Für unser Trinkwasser geht es um die Frage, wodurch Versorger Qualität und Verfügbarkeit unseres Trinkwassers in Zeiten des Klimawandels sichern und wie sich die Branche hierfür zukunftsfest aufstellt. Für diese und weitere Fragestellungen entwickelt die gat | wat tragfähige Lösungsansätze im Diskurs mit renommierten Experten.
Welche Erwartungen richten Sie konkret an die künftige Bundesregierung?
Insbesondere in den Anwendungssektoren Wärme, Industrie, Mobilität und Stromerzeugung wird deutlich, welcher Beitrag kurz-, mittel- und langfristig durch Wasserstoff und klimaneutrale Gase möglich ist. Deshalb setzt sich der DVGW für eine Umsetzung ein, die sich entlang der Nutzung und Weiterentwicklung der Gasnetze – Ferntransportnetze und Verteilnetze gleichermaßen – orientiert. Diese Assets sollten genutzt werden, um Investitionen in die Bahnen zu lenken, in denen sie die größte und schnellste Wirkung für den Klimaschutz und einen wirtschaftlichen Impuls leisten können.
Politik fokussiert sich allzu oft auf schnelle Erfolge. Besser ist Ausdauer beim Umsetzen langfristig tragbarer Lösungen. Auch müssen wir uns ehrlicher machen und wissenschaftliche Fakten anerkennen. Technologieoffenheit darf nicht nur auf dem Papier stehen. Besonderes Augenmerk ist auf die Realisierung eines Transformationspfades zu legen, der sich durch die richtige Reihenfolge der Zwischenschritte auszeichnet. Wasserstoff kann somit seine klimaschützende Wirkung zu den niedrigsten volkswirtschaftlichen Gesamtkosten entfalten. So werden Klima- und Wirtschaftspolitik vereinbar. Ein großer Schritt dorthin ist der sinnvolle, großflächige Einsatz von Wasserstoff und anderen klimaneutralen Gasen als Ersatz für Kohle und Öl. Der DVGW möchte mit seiner über 160-jährigen Erfahrung als Regelsetzer im Gas- und Wasserfach auf diesem Gebiet Wegbegleiter und Wegführer für Deutschland sein.
Welchen Stellenwert haben Gase für den weiteren Verlauf der Energiewende?
Nur mit einem ganzheitlichen Blick auf die Energieträgerwelt kann die Energiewende wirklich gelingen. Lag der Fokus bisher vor allem auf dem Markthochlauf der erneuerbaren Energien, also von Elektronen, muss in der zweiten Phase der Energiewende der Fokus vor allem auf Gas, also Molekülen, liegen. Denn etwa 80 Prozent des Energiebedarfs in Deutschland werden derzeit durch Moleküle den verschiedenen Sektoren bereitgestellt. Gase spielen dabei eine Schlüsselrolle, da sie klimaneutral hergestellt werden können. Die begonnenen Anstrengungen um den Markthochlauf von Wasserstoff und die Nutzung klimaneutraler Gase sind hierbei zu unterstützen, denn sie haben für die C02 -Reduktion in nahezu allen Sektoren eine zentrale Bedeutung. Der Einsatz von Wasserstoff und weiteren klimaneutralen Gasen ist eine Win-win-Situation für Umwelt und Wirtschaft – Wasserstoff kann die CO2 -intensiven Energieträger Kohle und Erdöl ablösen und den CO2 -Ausstoß spürbar senken.
„Deutschland sollte sich frühzeitig daran beteiligen, die Voraussetzungen für einen weltweiten Wasserstoffmarkt zu schaffen. Ein liquider Handel und der daraus resultierende Wettbewerb sind die sichersten strategischen Weichenstellungen für einen kosteneffizienten Import von klimaneutralen Gasen.“ Prof. Dr. Gerald Linke
Wie kann die Wasserstoffstrategie effizienter umgesetzt werden?
Wasserstoff spielt als Kern und Treiber für klimaneutrale Gase, als verbindendes Element der Sektorenkopplung, als Katalysator für Innovationen bei der Wärmeversorgung, in der Industrie, Mobilität und der Energieerzeugung eine zentrale Rolle. Deutschland könnte rund ein Drittel seines heutigen Gasbedarfes aus heimischen erneuerbaren Gas-Quellen decken. Dennoch wird es auch zukünftig Wasserstoff und Synthesegase importieren müssen.
Um die Strukturen für kosteneffiziente Importe aufzubauen, sollte Deutschland frühzeitig mit entsprechenden Planungen und Verhandlungen beginnen. In anderen Staaten sind die Erzeugungskosten für erneuerbare Energien (Strom und nachfolgend Gas) deutlich geringer. Beispiele sind europäische Standorte wie die NordseeAnrainerstaaten für Windstrom. Das Windenenergie-Verteilkreuz-Konzept des North Sea Wind Power Hub (NSWPH) zeigt bereits die Möglichkeiten der Wasserstoffproduktion mit Offshore-Windstrom in der Nordsee.
Sie sprachen kürzlich von einem europäischen Wasserstoff-Backbone. Worum geht es hierbei konkret und auf welche Parameter kommt es an?
Bedingung für die Etablierung eines Weltmarktes für klimaneutrale Gase ist die Schaffung entsprechender Infrastrukturen. In der EU betrifft das Transportleitungen wie auch Gas-Terminals. Die bestehenden transeuropäischen Gasnetze bieten bereits eine wichtige Grundlage für den Import von Wasserstoff. Europaweit haben sich elf europäische Gasnetzbetreiber zusammengeschlossen, um den Plan eines „European Hydrogen Backbones“ umzusetzen. Dabei soll bis 2030 ein erstes internationales Netzwerk geschaffen werden, das durch ein reines Wasserstoffnetz in Länge von 11.600 Kilometern miteinander verbunden ist. Bis 2040 soll ein europaweit verbundenes Wasserstoffnetz in Länge von 39.700 Kilometern entstehen, davon über 75 Prozent umgerüstete Erdgas-Pipelines. Die chronologische Abfolge der Errichtung der Anschlüsse zu den nachgelagerten Verteilnetzen und damit das Ineinandergreifen der Top-down-Entwicklung des Transportnetzes mit dem Bottom-up-Ansatz der Verteilnetzbetreiber stellt eine Planungsaufgabe für die kommenden Monate und Jahre dar.
In der Diskussion steht die Nutzung des Erdgasnetzes zur Durchleitung von Wasserstoff. Wie ist hier die Position des DVGW?
Wir haben als DVGW einen Stufenplan entwickelt, um das Erdgasnetz auch für hohe Wasserstoffanteile “H2 - ready” zu machen und treiben die Weiterentwicklung des entsprechenden Regelwerks intensiv voran. Die Fernleitungsnetzbetreiber haben die Vision eines prospektiven Wasserstoffbackbones vorgelegt; über 30 Gasverteilnetzbetreiber haben außerdem mit dem DVGW einen Fahrplan für die Transformation der Gasverteilnetze entwickelt.
Allerdings ist der gesetzliche Rahmen für die Energiewirtschaft noch ganz auf Erdgas ausgerichtet. Für den Markthochlauf von klimaneutralen Gasen braucht es deshalb jetzt politische Entscheidungen, um Wasserstoff innerhalb der Regulierung anzuerkennen. Die derzeit noch geringen verfügbaren Mengen von Wasserstoff können bereits jetzt großflächig zur CO2 -Reduzierung genutzt werden. Rein technisch ließen sich den Gasnetzen für viele Anwendungen schon heute bis zu zehn Prozent – im Wärmemarkt auch bis zu 20 Prozent - Wasserstoff beimischen. Diese Möglichkeit wird jedoch noch nicht in vollem Umfang genutzt. Wobei wachsende Erzeugungs- und Importkapazitäten die Chance bieten, den Anteil von zehn Prozent in den kommenden Jahren auszuschöpfen.
Sind einhundert Prozent Wasserstoff im Gasnetz realistisch?
Ein reines Wasserstoffnetz, aufbauend auf Teilen des Erdgasnetzes und betrieben mit Import-Wasserstoff sowie heimisch erzeugtem Wasserstoff, ist aus unserer Sicht realisierbar. Allerdings ist dies anspruchsvoller, da alle Abnehmer für diese Umstellung bereit sein müssen. Der Weg zu einer vollständigen Versorgung mit Wasserstoff erfolgt daher, neben einem Mischgasnetz basierend auf dem bisherigen Erdgasnetz, an strategischen Punkten durch ein reines Wasserstoffnetz – bestehend aus umgestellten Erdgasund neu zu errichtenden Wasserstoffleitungen. Ein solcher Parallelbetrieb würde es ermöglichen, den H2 -Anteil im Mischgasnetz konstant zu halten und erste Abnehmer mit 100 Prozent Wasserstoff zu versorgen.
Eine Schlüsselrolle kommt hier den Verteilnetzbetreibern bei der Gasversorgung von Industrie und Gewerbe zu. Rund 1,6 Millionen industrielle und gewerbliche Letztverbraucher sind an die Verteilnetze angeschlossen. Sie können durch regionale Power-to-Gas- und Biomethan-Anlagen mit klimaneutralen Gasen schrittweise versorgt werden, auch wenn es regional noch keinen vollständigen H2 -Backbone gibt. Direkt an die Gastransportnetze sind demgegenüber rund 600 Großindustriekunden angeschlossen. Die Umstellung der Verteilnetze erfordert aber zeitnahe Investitionen durch die Verteilnetzbetreiber. Um sicherzustellen, dass alle Verteilnetzbetreiber die nötigen Investitionsmittel zur Verfügung haben, sollte die Politik prüfen, ob eine Fondsfinanzierung, zum Beispiel durch die KfW, notwendig ist.