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Digitalisierung: Rundum-Sorglos- Pakete für Kunden entwickeln
Digitalisierung ist global und unumkehrbar. Technologische Veränderungen haben auch die Energiewirtschaft erreicht.
Wie auch Commodities Sex-Appeal entwickeln und welche Rolle Stadtwerke dabei spielen können, fragen wir Dr. Michael Maxelon, Vorstandsvorsitzender der Städtische Werke AG Kassel (rechts), und Norbert Reichert, für das Energiegeschäft zuständiger Geschäftsführer der Beratungsmanufaktur Kreutz & Partner. Beide arbeiteten erfolgreich bei der Entwicklung des Konzeptes für die „Urbanisierung der Energiewende in Stuttgart“ zusammen.
Betrachten Sie die voranschreitende Digitalisierung eher als Risiko oder als Chance?
Norbert Reichert: Digitalisierung ist, ganz grundsätzlich gesagt, eine Querschnittstechnologie. Sie verändert alles und macht vor nichts Halt. Im ersten Schritt unserer Beratung verweisen wir deshalb stets darauf, wie wichtig es ist, ein Verständnis für digitale Transformation zu entwickeln und dabei auch mal über den Tellerrand der eigenen Branche zu blicken. In der „alten Welt“ liefen unternehmerische Prozesse wasserfallartig ab. In der „neuen Welt“ dagegen werden sie iterativ sein. Das heißt: Nach dem Prinzip „trial and error“ wird man sich in wiederholten Maßnahmen schrittweise der exakten Lösung annähern.
Dr. Michael Maxelon: Dem pflichte ich bei. In Zukunft wird es sehr viel schnelllebigere Produktzyklen geben. Das erfordert eine höhere Innovationsbereitschaft von den Unternehmen. Dies gilt auch und besonders für die Energiebranche. Sie hat derzeit die berühmten drei großen D’s der Energiewende zu meistern: „Digitalisierung“, „Dezentralisierung“ und „Dekarbonisierung“. Auf deren Basis werden momentan völlig neue Produktbündel und Serviceleistungen entwickelt. Für unsere Kunden betrachte ich das Thema deshalb ganz klar als Chance. Branchenintern wird das aber nicht überall so gesehen. Dort gilt Digitalisierung vielfach als Risiko.
Was folgt für Sie als Stadtwerkechef daraus?
Maxelon: Wir müssen jetzt schauen, wo stehen wir künftig? Welche Geschäftsmodelle und welche Produkte gibt es, und wie kann man diese entwickeln, auch wenn sie vielleicht nur zwei Jahre Gültigkeit haben? Das erfordert ein Management des Wandels. Reichert: Strom und Gas sind Commodity- Produkte, sie sind für die meisten Konsumenten nicht wirklich interessant. Deshalb bleibt in der Regel der Preis als rationales Kaufkriterium, was die vielen Vergleichsrechner im Netz beweisen. Aber Energie an sich ist ein spannendes, komplexes Thema. Es bringt Aspekte mit, die für jedes Individuum interessant sind.
Zum Beispiel?
Reichert: Energie sparen, selbst erzeugen und speichern zum Beispiel. In naher Zukunft ist die Chance hoch, die eigene Energiewende selbst zu gestalten. Stadtwerke können ihren Kunden dabei helfen, und ihnen Komplexität abnehmen.
Ausgerechnet die als behäbig geltenden Stadtwerke? Warum nicht einer der branchenfremden Anbieter?
Maxelon: Im Gegensatz zu ihnen ist unser großer Vorteil die Nähe zum Kunden, gepaart mit einer sehr guten Reputation. Die Kunden sprechen mit uns, sie vertrauen uns, wir kennen einander. Auf Basis dessen können wir neue Geschäftsmodelle erahnen, erkennen, erschaffen. Viele davon muss man erproben. Das regt die Phantasie an. Es geht dabei auch um völlig neue Service-Angebote. In Kassel denken wir beispielsweise in Richtung Ambient-Assistent Living und bieten mit unserem Smart-Home-System einen Service an, der es im Endeffekt erlauben wird, dass Ältere länger in ihren eigenen vier Wänden leben können.
Reichert: Die Entwicklung neuer Geschäftsfelder im Zeichen der Digitalisierung hat viel mit Überzeugung und innerer Einstellung zu tun. Bei Branchen-Events wie dem Berliner Stadtwerkekongress vom April diesen Jahres habe ich den Eindruck gewonnen, dass die Schere zwischen denen, die mit Überzeugung an die sich verändernde Energiewelt rangehen und jenen, die daran zweifeln und hinter die Entwicklung zurückgehen möchten, immer größer wird. Um den Grad der Überzeugung der Verantwortlichen im EVU zu ermitteln, verfolgen wir häufig den methodischen Ansatz des „Goldenen Kreises“ und eruieren dabei die alles entscheidende Frage des „Warum“.
Wer weiß, warum er etwas tut, geht leichter die richtigen Schritte?
Reichert: Zumindest führt die Antwort auf das WARUM zu viel konsequenteren Antworten auf das WIE und das WAS, also die operativ notwendigen Schritte. Das Ergebnis ist eine – nach innen und außen - robustere Strategie. Und genau die benötigen Führungskräfte in Energieunternehmen, um die notwendigen Veränderungen anzugehen. Demnach ist die zweite Herangehensweise die zukunftsweisendere und mündet in Produkte, die den Stadtwerken aus den Händen gerissen werden. Was sagt der Praktiker dazu?
Maxelon: In der Vergangenheit haben diverse Energieversorger das Commodity-Produkt Strom mit verschiedenen Qualitäten besetzt. Ihm zum Beispiel eine Farbe gegeben oder unter dem Label „öko“ verkauft. Weil „regional“ heute das neue „öko“ ist, wird sicher bald regional erzeugter Strom in diese Nische vorstoßen. Die Idee, Kunden als Prosumenten zu sehen und sie beim Gestalten der persönlichen Energiewende zu unterstützen, wird für Stadtwerke sicher ein attraktives Produkt werden, meines Erachten aber ebenfalls in einer Nische angesiedelt bleiben. Bei der Umsetzung dieser Angebote werden Stadtwerke- Kooperationen übrigens eine noch wichtigere Rolle spielen als heute schon. Die Kunst der Fuge besteht aber darin, auf Basis digitaler Technologien Rundum-Sorglos- Pakete für unsere Kunden zu entwickeln. Denn das ist, was die Mehrheit will.
Reichert: Einzelne Energieversorger sind in der Praxis schon sehr weit und es sind bemerkenswerte Kooperationen entstanden. Dank Kooperationen lassen sich Stärken optimieren, man verschafft sich einen Zugang zu Spezial-Know-how, Skalierungseffekte werden möglich und die Veränderung der Unternehmenskultur erleichtert. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass viele Stadtwerke der Entwicklung hinterherlaufen, an alten Modellen hängen und vieles ausprobieren, aber all dies ohne wirkliche Überzeugung.
Wie sehen Sie das, Dr. Maxelon?
Maxelon: Ich sehe das vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Situation. Der Energievertrieb wird zunehmend schwierig. Nischen sind ausgereizt, der Wettbewerb über den Preis zeitigt ruinöse Folgen. Branchenfremde Akteure drängen in den Markt, die Treiber der Transformation unseres Energiesystems kommen von zwei Seiten: Die Politik setzt Klimaziele und gibt uns zum Teil einen widersprüchlichen energiepolitischen Rahmen vor, auf der anderen Seite beobachten wir Phänomene wie Preisverfall, Miniaturisierung und Internet der Dinge. Kooperationen sind in dieser Situation definitiv von Vorteil, aber auch jedes einzelne Stadtwerk muss im Zeitalter der Digitalisierung die richtigen Fragen stellen.
Nämlich welche?
Maxelon: Zum Beispiel: Was macht Bürger zu Kunden? Wie bewältigen wir den Spagat, gleichzeitig Infrastrukturdienstleister und Einzelhändler zu sein? Wie sichern wir unser Bestandsgeschäft und wie hoch ist unser Risiko, auf Bewährtes zu vertrauen?
Reichert: Wichtiger Punkt! Auch die Unaufgeregtheit von Stadtwerken – in Ihrer Frage haben Sie diese vorhin als Behäbigkeit bezeichnet – kann man innerhalb der Landschaft aus rund 900 Stadtwerken und ihrer lokal und historisch gewachsenen Unternehmenskultur als Tugend verstehen. Es geht bei weitem nicht darum, bei der Neuentwicklung von Produkten oder Geschäftsfeldern Bewährtes über Bord zu werfen!