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Die Zeit des Verschleppens und Vertagens ist vorbei
„Eine Konkurrenz zwischen den Netzebenen und Netzbetreibern gibt es nicht, alle Netzebenen greifen wie Zahnräder ineinander und müssen daher an das zukünftige Verbrauchs-und Erzeugungsdesign angepasst werden.“
Ein Ausbau der Stromnetzinfrastruktur und damit zusammenhängend die Gewährleistung von Systemstabilität spielen eine zentrale Rolle für unsere künftige Energieversorgung. Die deutschen Übertragungsnetzbetreiber haben den Entwurf für einen Netzentwicklungsplan 2037/2045 vorgelegt. Stefan Kapferer, Vorsitzender der Geschäftsführung des Übertragungsnetzbetreibers 50Hertz Transmission informiert in seinem Gastbeitrag über die wesentlichen Punkte.
Unter dem Eindruck des russischen Krieges gegen die Ukraine, seinen Folgen für unsere Wirtschaft und neuen geopolitischen Konstellationen stehen wir in Europa vor zwei sich überlagernden Herausforderungen: Bis spätestens 2050 klimaneutral werden und zugleich eine neue Architektur von Energiesouveränität umsetzen, in der Abhängigkeiten von Brenn- und Rohstoffimporten reduziert werden. Die Erneuerbaren Energien sind bei beiden Strategien der Schlüssel zum Erfolg, da sie die Stromerzeugung mit den niedrigsten Grenzkosten ermöglichen und Sonne und Wind als Energiequellen in unserem Einflussbereich liegen. Das vor uns liegende Jahrzehnt ist von entscheidender Bedeutung, diese beiden Ziele langfristig erreichen zu können. Die Zeit des Verschleppens und Vertagens ist endgültig vorbei.
Stromnetzinfrastrukturausbau und Systemstabilität als Einheit sehen
Dabei spielen der Ausbau unserer Stromnetzinfrastruktur und damit zusammenhängend die Gewährleistung von Systemstabilität eine zentrale Rolle. 50Hertz und die anderen drei deutschen Übertragungsnetzbetreiber Amprion, TenneT und TransnetBW haben im März ihren ersten Entwurf für einen Netzentwicklungsplan 2037/2045 vorgelegt. Dieses Werk ist mehr als eine Auflistung von notwendigen Freileitungen, Erd- und Seekabeln und Umspannwerken, um Strom über weite Strecken transportieren zu können. Der NEP skizziert ein Klimaneutralitätsnetz, in dem Strom im Zusammenspiel mit Speichertechnologien, mit Wasserstoff sowie mit flexiblen Verbrauchern und Erzeugern sektorenübergreifend das Rückgrat der gesamten Energieversorgung bildet. Im NEP-Entwurf haben die Übertragungsnetzbetreiber jeweils drei Szenarien für die Jahre 2037 und 2045 durchgerechnet, die sich unter anderem durch einen unterschiedlich hohen Grad der inländischen Wasserstofferzeugung unterscheiden. Danach ergibt sich beim prognostizierten Nettostromverbrauch ein Anstieg von unter 500 TWh im Referenzjahr 2020/2021 auf 900 bis rund 1000 TWh im Jahr 2037 und auf rund 1000 bis 1200 TWh im Jahr 2045. Diesen Berechnungen liegen, basierend auf den politischen Zielstellungen zur Klimaneutralität, Annahmen zu einer dramatischen Veränderung auf der Nachfrageseite in den kommenden 20 Jahren zugrunde: • Eine Vervielfachung der Zahl der Wärmepumpen in Gebäuden von derzeit 1,2 Mio. auf bis zu 16 Mio. • Eine Vervielfachung der Zahl der E-Fahrzeuge von derzeit 1,2 Mio. auf bis zu 37 Mio. E-Autos. • Eine Leistungssteigerung bei den Power-to-Heat Anlagen, als Elektrodenkessel oder Großwärmepumpe im Einsatz, von 0,8 GW auf mindestens 15 GW. • Ein Hochlauf der Kapazitäten von Elektrolyseuren von derzeit unter einem GW auf 50 GW in einem Szenario mit hohem Elektrifizierungsgrad bzw. auf 80 GW in einem Szenario mit hohem Wasserstoffanteil. • Die Ausnutzung von Flexibilitäten auf Verbrauchsseite in einer Größenordnung von rund 150 GW in Form von PV- und Großbatteriespeichern. Um diesen Stromverbrauch klimaneutral decken zu können, müssen die Erzeugungskapazitäten für die Erneuerbaren Energien ebenfalls mit einer neuen Dynamik hochskaliert werden: • Bei Photovoltaik von 64 GW auf 400 bis 445 GW, • Bei Wind onshore von 58 GW auf 160 bis 180 GW, • Bei Wind Offshore von 8 GW auf 70 GW auf Nord- und Ostsee.
Zuwächse verlangen Ausbau der Netzinfrastruktur
Daher überrascht es nicht, wenn diese enormen Zuwächse auf der Verbrauchs- und auf der Erzeugungsseite ihre Entsprechung in einem Ausbau der gesamten Stromnetzinfrastruktur finden müssen. Das gilt für die Verteilnetze in Deutschland, über die ein Großteil der erforderlichen Netzanschlüsse umgesetzt werden muss. Und natürlich gilt es für die Übertragungsnetze, weil nur über einen weiträumigen Transport diese Volumina zu bewältigen sind und weil in Zukunft immer mehr Erzeugungs- und Verbrauchsanlagen wie Offshore-Windparks, große PV-Freiflächenanlagen aber auch Elektrolyseure und Industrieansiedlungen direkt an das Höchstspannungsnetz angeschlossen werden müssen. Alle Netzebenen müssen daher an das zukünftige Verbrauchs- und Erzeugungsdesign angepasst werden, denn sie greifen wie Zahnräder ineinander. Auf der Höchstspannungsebene wurden im NEP für das Klimaneutralitätsnetz 2045 Projekte mit einer Gesamtlänge von über 14.000 Kilometern neu identifiziert. Darunter befinden sich Optimierungs- und Verstärkungsmaßnahmen des Wechselspannungsnetzes an Land - wie Umbeseilungen von Freileitungen oder leistungsfähigere Ersatzneubauten. Aber es wurde auch der Bedarf für fünf weitere Gleichstromverbindungen an Land ermittelt, die vom windreichen Norden in den verbrauchsintensiven Süden, Südwesten und Südosten verlaufen sollen. Darüber hinaus sind weitere 20 Offshore-Netzanbindungssysteme mit Gleichstromtechnik erforderlich, um das zukünftig hohe Offshore-Windaufkommen zu Netzverknüpfungspunkten mit Konverteranlagen im Landesinneren transportieren zu können.
Transformation verlangt Voraussetzungen
Diese erforderliche Transformation in der größten Volkswirtschaft Europas kann jedoch nur gelingen, wenn einige wesentliche Voraussetzungen erfüllt sind: 1. Der Stromnetzausbau muss auf allen Ebenen mit dem geplanten massiven Ausbau der Erneuerbaren Schritt halten. Auf Bundesebene wurden dazu die ersten wichtigen Voraussetzungen zur Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsprozessen geschaffen. Das Nadelöhr ist die praktische Umsetzung in konkretes Verwaltungshandeln. Hier müssen die zuständigen Behörden in die Lage versetzt werden, schneller prüfen und entscheiden zu können. 2. Wir müssen bei Innovationen von der Pilotphase schneller in die Implementierung kommen. Ein Beispiel dafür ist die nationale und internationale Vernetzung von Offshore-Netzanbindungen auf Nord- und Ostsee. Das erfordert neben technisch neuen Lösungen im Bereich der Gleichstromtechnologie auch Regulierungen auf europäischer Ebene, die den Stromaustausch über solche „vermaschten Netze“ fair gestalten. 3. Wir brauchen ausreichend Anreize, um die Flexibilitätspotenziale von Technologien wie Elektrolyseuren oder Power-to-Heat-Anlagen nutzen zu können. Gleiches gilt für dezentrale Prosumer wie Elektrofahrzeuge, Wärmepumpen und Solarspeicher. Neben der Bereitstellung von Kommunikationstechnologien zur Steuerung sind insbesondere geeignete Markt- und Netzentgeltstrukturen erforderlich. Fehlentwicklungen wie beim Smart-Meter-Rollout dürfen sich nicht wiederholen. 4. Auf dem Weg zu einem neuen Strommarktdesign sind Vorab-Entscheidungen notwendig, um den Ausstieg aus der Kohleverstromung zu flankieren. Wir brauchen regelbare Kraftwerke auf Basis von Erdgas mit der Option auf Umrüstung zu Wasserstoff als Energieträger. Investitionsentscheidungen in solche Projekte fallen nur, wenn eine entsprechende Verzinsung des eingesetzten Kapitals über einen angemessenen Zeitraum gewährleistet ist. Bei all diesen Punkten gilt: Wir haben keine Zeit zu verlieren.
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