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Die Energiewende findet im Verteilnetz statt
Die Verteilnetzbetreiber haben im Zuge der Energiewende enorm an Bedeutung gewonnen. Sie leisten einen wesentlichen Beitrag zur Systemstabilität der Stromnetze und der Kopplung des Stromsektors mit dem Wärme- und Verkehrssektor.
Wir sprachen mit Tim Hartmann, Vorstandsvorsitzender der envia Mitteldeutsche Energie AG (enviaM), über die neue Rolle der Verteilnetzbetreiber und die aus seiner Sicht zwingend notwendigen Änderungen der ordnungspolitischen und regulatorischen Rahmenbedingungen.
Foto: Guido Werner
Herr Hartmann, welche Rolle spielen die Verteilnetzbetreiber für die Energiewende?
Die Energiewende findet im Verteilnetz statt. Der Wandel von der zentralen zur dezentralen Energieversorgung hat zu einer deutlichen Aufwertung der Verteilnetzbetreiber geführt. 98 Prozent der Anlagen zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien sind an die Verteilnetze angeschlossen. Allein in unserem Netzgebiet sind es mittlerweile über 40.000. Sie decken hier rein rechnerisch inzwischen mehr als 85 Prozent des Stromverbrauchs ab. Im Bundesdurchschnitt sind es lediglich gut 30 Prozent. Damit haben wir schon heute die Ziele der Bundesregierung für das Jahr 2050 überschritten. Pro Jahr geben wir mittlerweile rund 300 Millionen Euro für die Instandhaltung und den Ausbau unserer Stromnetze aus. Trotzdem kommt es regelmäßig zu Engpässen. Wir managen diese rund um die Uhr und sorgen so für eine sichere und zuverlässige Stromversorgung.
Was haben die Verteilnetzbetreiber denn mit System- und Versorgungssicherheit zu tun? Das machen doch die Übertragungsnetzbetreiber …
… Das ist falsch! Die rund 800 Verteilnetzbetreiber in Deutschland decken rund 95 Prozent des Stromnetzes ab. Ihre Bedeutung für die Systemstabilität, die vor der Energiewende so gut wie ausschließlich Aufgabe der Übertragungsnetzbetreiber war, wächst rasant. Sei es Spannungshaltung, Versorgungswiederaufbau, Engpassmanagement oder die Erbringung von Regelleistung – die Verteilnetzbetreiber leisten hier schon heute einen wichtigen Beitrag. Er wird künftig deutlich weiter zunehmen.
Ich möchte dazu ein Beispiel anführen. In unserem Netzgebiet stehen rund 8 Gigawatt installierter Leistung bei erneuerbaren Energien lediglich gut 3 Gigawatt Bedarf gegenüber. Wenn die Sonne scheint und der Wind weht, müssen wir einen enormen Stromüberschuss „entsorgen“. Diese anspruchsvolle Situation für die Netzsteuerung meistern wir jeden Tag souverän.
Wir erleben gerade eine neue Phase, wo aus der Stromwende durch Sektorkopplung eine echte Energiewende werden kann. Sind die Verteilnetzbetreiber dieser Herausforderung gewachsen?
Auf jeden Fall. Um die Klimaschutzziele zu erreichen, müssen wir die Energiewende von einer Stromwende zu einer Wärme- und Verkehrswende weiter entwickeln. Zwei Drittel unseres Energieverbrauchs und unserer CO2-Emissionen entfallen auf den Wärme- und Verkehrsbereich. Hier gilt es anzusetzen. Wir werden künftig verstärkt mit Strom aus erneuerbaren Energien heizen und fahren. Auch hier spielen die Verteilnetzbetreiber eine Schlüsselrolle. Denn an ihre Netze werden die neuen Heizungsanlagen und E-Ladesäulen angeschlossen. Es sind folglich die Verteilnetzbetreiber, die den Stromsektor intelligent und effizient mit dem Wärme- und Verkehrssektor koppeln und dafür sorgen, dass der regional erzeugte Strom aus erneuerbaren Energien auch regional genutzt wird. Dabei spielt die Digitalisierung eine wichtige Rolle. Sie liefert die notwendigen Daten. Diese sind den Verteilnetzbetreibern uneingeschränkt zur Verfügung zu stellen. Das in dieser Legislaturperiode verabschiedete Gesetz zur Digitalisierung der Energiewende lässt hier leider zu wünschen übrig. Es hat das Datenmanagement für die intelligenten Messsysteme in die Hände der Übertragungsnetzbetreiber gelegt. Dies ist aus Sicht der Verteilnetzbetreiber nicht nachvollziehbar.
Was wünschen Sie sich von der Politik?
Die wachsende Bedeutung der Verteilnetzbetreiber für die Energiewende kommt in der Politik leider nur sehr langsam an. Das Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) fußt in weiten Teilen noch immer auf einer zentralen und analogen Stromversorgung, die der Vergangenheit angehört. Dies muss sich ändern. Wir brauchen gesetzliche Neuregelungen, die die Schlüsselrolle der Verteilnetzbetreiber für die Umsetzung der Energiewende angemessen berücksichtigen.
Die neue Bundesregierung sollte hier nach der Bundestagswahl entsprechende Akzente setzen. Dabei ist auch die Zusammenarbeit zwischen den Verteilnetzbetreibern und den Übertragungsnetzbetreibern zu berücksichtigen. Rollen, Verantwortlichkeiten und der Datenaustausch sind schnellstmöglich an die neuen Rahmenbedingungen anzupassen. Auch bei der Regulierung benötigen wir ein anderes Denken. Sie muss künftig sehr viel stärkere Anreize bieten, intelligente Technologien zu nutzen, um so die Kosten für den klassischen Netzausbau zu senken.
Die Verteilnetzbetreiber sind kleinteilig und vielstimmig. Ist das Ihr Problem?
Es ist so, dass es den Verteilnetzbetreibern schwerer fällt, politisch wahrgenommen zu werden als den Übertragungsnetzbetreibern. Es ist allerdings nur noch eine Frage der Zeit, wann sich dies ändern wird. Die Verteilnetzbetreiber arbeiten in der politischen Kommunikation bundesweit immer enger zusammen. Dies wird von Bund und Ländern aufmerksam beobachtet. Ob gemeinsame Arbeitsgemeinschaften, Studien, Positionspapiere oder Pressegespräche – wir sind auf einem guten Weg.
Sie sprachen davon, dass die Zusammenarbeit zwischen Verteilnetzbetreibern und Übertragungsnetzbetreibern neu geregelt werden muss. Beim Engpassmanagement funktioniert die Koordination momentan über die sogenannte Kaskade. Ist diese überholt?
Die Zusammenarbeit über die Kaskade beim Engpassmanagement hat sich bewährt. Das Modell ist ein Erfolg und muss fortgesetzt und erweitert werden. Jeder Netzbetreiber ist für die Sicherheit in seinem Netz verantwortlich. Die Zuständigkeit der Übertragungsnetzbetreiber endet daher bei den Verknüpfungspunkten zum Verteilnetz. Was aber hinter diesen passiert, sollte die Übertragungsnetzbetreiber künftig auch bei der Erbringung von anderen Systemdienstleistungen wie Spannungshaltung, Versorgungswiederaufbau oder Regelleistung nichts mehr angehen. Die anderen Systemdienstleistungen sind in die Kaskade einzubeziehen. Nur so ist die Haftung klar abgegrenzt.
Die Ausweitung ist im Energiewirtschaftsgesetz neu zu regeln. Auf diese Weise werden wir dem Wandel von der zentralen zur dezentralen Energieversorgung im Zuge der Energiewende gerecht.