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„Dezentralisierung“ – Treiber der Energiewende?
Eine künftige Bundesregierung wird das Ziel anstreben, den Anteil an erneuerbaren Energien in Deutschland auf 65 % im Jahr 2030 zu schrauben. So jedenfalls ist die Zielstellung im Koalitionsvertrag fixiert. Damit erhält die Diskussion um Versorgungssicherheit, Flexibilität, Ausschreibungen und dezentrale Erzeugung weiteren Auftrieb.
Unser Autor Dr. Thomas Unnerstall setzt sich seit längerem mit der Rolle der „Dezentralisierung“ in der deutschen Stromversorgung auseinander. Mit dem folgenden Beitrag bietet er eine Diskussion zum Thema an.
Foto: Michael Setzpfandt
Seit einiger Zeit ist es fast ein Allgemeinplatz, dass die Zukunft der deutschen Energiewirtschaft von den drei Treibern Dekarbonisierung, Digitalisierung und Dezentralisierung beherrscht wird. So jedenfalls lautet der Tenor vieler Vorträge auf Branchentreffen. Aber stimmt das wirklich? Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die Dekarbonisierung als zentrales Ziel der Energiewende und auch international als Kern-Paradigma der Energiepolitik in der Tat unumkehrbar ist. Und auch die Digitalisierung als technologischer Megatrend für die gesamte Industriegesellschaft kennt wahrscheinlich nur eine Richtung. Wie jedoch das weitere Schicksal der Dezentralisierung aussieht, ist alles andere als eindeutig.
Die „Zentralität“ der konventionellen Stromerzeugung
Die konventionelle Stromerzeugung war geprägt von einigen hundert über das ganze Land verteilten Kraftwerken in der Größenordnung von 100 bis über 1.000 MW; komplexe industrielle Großanlagen mit einem Investitionsbedarf von meist über 0,5 Mrd. €. Die Gründe für diese Größenordnung liegen auf der Hand: massive ökonomische Skaleneffekte (etwa gegenüber BHKW), deutlich bessere Möglichkeiten der Abgasreinigung etc.
Charakteristisch war freilich, dass nur wenige Unternehmen das nötige Know-how und die erforderliche Finanzkraft hatten, um solche Kraftwerke zu bauen und zu betreiben. Deshalb waren über 80 % der traditionellen Stromerzeugung in der Hand der vier Unternehmen E.ON, RWE, Vattenfall, EnBW. Dieser Zustand wurde oft als Oligopol kritisiert, und er kann sicherlich auch den Begriff „zentral“ in einem bestimmten Sinn rechtfertigen.
Die „Dezentralität“ der erneuerbaren Energien (EE)
Wie kommt es überhaupt zur Behauptung oder Forderung, eine auf EE beruhende Stromerzeugung und Energiewirtschaft werde oder sollte von „Dezentralisierung“ geprägt sein? Auf den ersten Blick spricht eigentlich wenig für ein solches Paradigma. Im offiziellen Ziele-Kanon der Bundesregierung für die Energiewende taucht der Begriff der „Dezentralität“ nicht auf; und die ökonomischen Skaleneffekte gelten auch für die EE. Vor allem betrifft das die Photovoltaik (PV): PV-Strom aus einer 5 MW-Anlage mit zurzeit 4-5 ct/kWh Subventionsbedarf ist sehr viel kostengünstiger als PV-Strom aus einer 5 kWDachanlage mit aktuell 12-13 ct/kWh EEGVergütung. Dasselbe gilt sehr wahrscheinlich auch für die Energieinfrastrukturelemente wie z. B. Speicher und P2G-Anlagen, die in der Zukunft gebraucht werden.
Es ist sicher richtig – und darin besteht in Politik, Wirtschaft und Energiebranche ein klarer Konsens –, dass gerade vor dem Hintergrund der Herausforderungen im Wärmeund im Verkehrssektor die Kosteneffizienz der Energiewende von herausragender Bedeutung ist, insbesondere auch um die weitere gesellschaftliche Akzeptanz des Projektes zu gewährleisten. Konsequenterweise müsste man aber dann beim weiteren Ausbau der EE den Großanlagen den klaren Vorzug geben – also gerade nicht einem Trend „Dezentralisierung“ folgen.
Immerhin: Aufgrund des viel höheren Platzbedarfs (eine 1000 MW PV-Anlage würde ca. 30 km² beanspruchen, ein 1000 MW Windpark ca. 60 km²) werden in einem dicht besiedelten Land wie Deutschland in der Regel nur EEAnlagen bis etwa 20 MW gebaut. Daher ist eine auf PV und Wind beruhende Stromerzeugung tatsächlich viel kleinteiliger und damit „dezentraler“ als der bisherige konventionelle Kraftwerkspark. Eine gute und wichtige Folge davon ist die Vielzahl der Akteure in diesem Bereich, die das o. g. Oligopol nachhaltig gebrochen hat.
Für die aktuell 1,6 Millionen sehr kleinen PVAnlagen (< 100 kW) gibt es freilich keinen systemischen Grund. Ihre Existenz liegt ausschließlich in der politisch gewollten Konstruktion des EEG begründet, das diese Anlagen lange Zeit (über-)fördert hat und immer noch fördert – eine Konstruktion, die bisher nur etwa 3 % der Haushalte zu Gute gekommen ist und die weit über 100 Mrd. € an (Zusatz-) Kosten verursacht hat.
Weniger Übertragungsnetze?
Als Argument für die Dezentralisierung gibt es auch die These: „Je dezentraler die Energiewende abläuft, desto weniger (neue) Übertragungsnetze braucht sie“.
Nun ist klar, dass der Grad der Dezentralität im bisher diskutierten Sinn – kleine vs. große EE-Anlagen – jedenfalls für die besonders strittigen Nord-Süd-Trassen keine Rolle spielt. Deren Notwendigkeit ist ja eine Folge des massiven Ausbaus der Windenergie bei vergleichsweise geringem Stromverbrauch im Norden und hat nichts mit der Größe der einzelnen Anlage zu tun.
Meint man mit „dezentral“ jedoch die gleichmäßige Verteilung von EE-Anlagen in Deutschland oder den weiteren Ausbau von EEAnlagen im Norden und im Süden im gleichen Verhältnis zum Stromverbrauch in diesen Regionen, dann ist die These zweifellos richtig. Nur: Aus der These folgt noch nicht, dass „Dezentralisierung“ in diesem Sinn eine vernünftige Leitlinie für die Energiewende wäre.
Denn dem Vorteil bei den Übertragungsnetzen steht ja der offensichtliche Nachteil dieser „Dezentralisierung“ entgegen, dass der EEStrom dann insgesamt teurer wäre (weil er an im Durchschnitt ungünstigeren Standorten produziert würde). Man muss daher die Vorund Nachteile – und insbesondere die jeweiligen Kosten – von in diesem Sinne „zentraleren Konzepten“ (Onshore-Windstrom vor allem im Norden, 60 TWh Offshore-Windstrom im Jahr 2030 etc.) im Vergleich zu „dezentraleren Konzepten“ sorgfältig abwägen. Nur so lässt sich eine Richtungsentscheidung ableiten.
Was ist das volkswirtschaftliche Optimum?
Fazit: Eine auf erneuerbaren Energien basierende Stromerzeugung ist – in Deutschland, nicht unbedingt in anderen Ländern – notwendigerweise viel kleinteiliger, daher von weit höherer Akteursvielfalt geprägt und in diesem Sinne tatsächlich eindeutig „dezentraler“ als die konventionelle Stromerzeugung. Daraus folgt aber weder, dass diese Stromerzeugungslandschaft so kleinteilig sein muss, wie es zur Zeit faktisch der Fall ist; noch folgt daraus, dass die Stromerzeugung in der Zukunft immer kleinteiliger werden sollte. Mit anderen Worten: Dezentralisierung als fortschreitender Trend ist für die Energiewende weder erforderlich noch per se vorteilhaft.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht hier nicht darum, prinzipiell für große („zentrale“) Systeme und gegen kleinere („dezentrale“) Systeme zu argumentieren. Es geht nur darum, die kostspielige Bevorzugung der kleinen Systeme vor allem im PV-Bereich zu beenden. Allgemeiner geht es darum, bei der Energiewende das volkswirtschaftliche Optimum anzustreben, d. h. die Kosten zu minimieren und damit auch auf längere Sicht den gesellschaftlichen Konsens zu erhalten.
Dabei sollte die Energiepolitik technologieoffen sein, auch bzgl. der Frage großer oder kleiner Systeme. Noch einmal anders ausgedrückt: Wenn die zukünftige technologische Entwicklung so ablaufen sollte, dass in zehn oder 20 Jahren mit sehr kleinen Systemen in Einfamilienhäusern, Mietshäusern und Gewerbebetrieben die Stromversorgung volkswirtschaftlich am günstigsten dargestellt werden kann, dann – aber nur dann – wird und muss „Dezentralisierung“ tatsächlich ein wesentliches Merkmal der Energiewende und der Energiezukunft sein.
Der Autor ist zu erreichen unter: tunner@online.de