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< Neues Gesetz verändert Messwesen tiefgreifend
09.09.2016 16:20 Alter: 8 yrs

Demand Side Management: Zielkonflikt zwischen Flexibilität und Effizienz

Die Rolle der energieintensiven Industrie in Deutschland für das Demand Side Management (DSM) als Beitrag zur Energiewende wird überschätzt. Um DSM auf eine breitere wettbewerbliche Basis zu stellen und möglichst viele große Konsumenten zur Teilnahme am DSM zu inzentivieren, müssen die Vergütungen an technische und wirtschaftliche Parameter der unterschiedlichen Prozesse angepasst werden. Dr. Frank Holtrup, bis Oktober 2015 Senior Manager beim Weltenergierat Deutschland (WEC), hat in einer Studie des WEC am Beispiel der Chlor-Alkali-Elektrolysen untersucht, welche zusätzlichen Kosten tatsächlich beim DSM anfallen. Seit November 2015 leitet er das Verbindungsbüro von Covestro Deutschland AG in Berlin.


Lastregelung (auch Demand Side Management oder Demand Response genannt), bezeichnet die Steuerung des Energieverbrauchs auf der Nachfrageseite, um Regelleistung zur Verfügung zu stellen und dadurch die Stromnetze zu stabilisieren. Droht ein Absinken der Netzfrequenz, weil der Strombedarf höher als die Stromerzeugung ist, hat ein Netzbetreiber zwei Möglichkeiten: Er kann ein Kraftwerk hochfahren lassen, um die Erzeugung zu erhöhen, oder er kann Stromlasten abschalten (lassen), um den Strombedarf zu verringern. Der Effekt ist der gleiche, man spricht in beiden Fällen von positiver Regelleistung. Das Gegenteil, die negative Regelleistung, erreicht man durch Herunterfahren eines Kraftwerks oder durch verbraucherseitige Erhöhung der Stromlast.

Bewertung von DSM verlangt realistische Potentialabschätzung

Um ein Kraftwerk im Rahmen der Regelleistung einzusetzen, muss es jederzeit verfügbar und sehr flexibel bzw. schnellstartfähig sein. Damit fällt Photovoltaik oder Windkraft aus, da diese vom Sonnenstand bzw. den aktuellen Windverhältnissen abhängig und maximal für negative Regelleistung (durch Abschaltung) brauchbar sind. Speicher oder Batterien zur Zwischenspeicherung und späterem Abruf der erneuerbaren Energien sind derzeit nicht wirtschaftlich bzw. nicht ausreichend vorhanden. Klassischerweise dienen Pump-Speicher- und Gaskraftwerke als Regelkraftwerke. Aber auch moderne Kohlekraftwerke sind heute flexibel gestaltet. So können z. B. Braunkohlekraftwerke der BoA-Klasse heute 50 % ihrer Kapazität (also rund 500 MW) innerhalb von 30 Minuten herunter- oder herauffahren. Die Anreizung flexibler Fahrweisen auf der Nachfrageseite bietet auf den ersten Blick mehrere Vorteile: Die Verbraucheranlagen sind bereits vorhanden. Sie produzieren Güter und die Unterstützung des Regelenergiemarktes ist ein positiver Nebeneffekt. Zudem hat man den Vorteil, mit wenigen Anlagen große Lasten zu- oder abzuschalten, was die Komplexität der Steuerung gering hält. Und es handelt sich um etablierte und zuverlässige Produktionsprozesse, bei denen der Betreiber über große Erfahrung verfügt. Ein solcher Betrachtungshintergrund erklärt, warum die Bundesregierung dem DSM einen großen Stellwert bei der Umsetzung der Energiewende zuschreibt. Die maximale Stromlast in Deutschland beträgt etwas über 80 GW. Das Grünbuch der Bundesregierung geht von einem DSM-Potenzial von 5 bis 15 GW und damit fast 20 % der maximalen Last aus. Eigene Berechnungen und andere Studien weisen kurz- bis mittelfristig jedoch nur ein Potenzial von ca. 3 GW aus.

Flexibilität bedingt Zusatzkosten in der Produktion

Für die chemische Industrie gilt seit langem, dass die Bereitstellung von Flexibilität auch aus bestehenden Anlagen ohne Zusatzkosten nicht möglich ist. So verlangt es organisatorische Maßnahmen (z. B. zur Vermeidung von Lastspitzen) oder auch Investitionsmaßnahmen wie z. B. für Schicht-

betrieb, Produktzwischenspeicher, Lagerhaltung, um den Anforderungen an die Flexibilität Rechnung zu tragen. Ein durchgeführter Plausibilitätscheck am Beispiel der Chlorelektrolysen zeigt: In Deutschland wurde im Jahr 2013 eine Menge von 4.271 kt Chlor hergestellt. Die Produktionskapazität betrug 5.078 kt, d.h. die Auslastung in 2013 lag bei 84 %. Unter der Annahme eines Stromverbrauches von ca. 2,7 MWh/t Chlor (europäischer Durchschnittswert für Chlor-Alkali-Elektrolysen), hat die Chlorherstellung in Deutschland 11.530 GWh Strom verbraucht. Bei 8.500 angenommenen Betriebsstunden entspricht das einer Leistung von 1.350 MW. Da man aus technischen Gründen nur 40 % dieses Wertes ansetzen kann, kommt man auf ein maximales DSM-Potenzial von unter 600 MW für Chloranlagen in Deutschland. Dies ist das technische Potenzial, das wirtschaftlich- unternehmerische ist noch geringer. Die Chlorherstellung gehört neben der Herstellung von Aluminium, Kupfer, Stahl, Papier und Zement zu den energieintensiven Industrien, die für DSM in Frage kommen. Führt man analoge Überschlagsrechnungen für die anderen energieintensiven Industrien durch, so liegt das maximale technische Gesamtpotenzial der energieintensiven Industrien bei 3 GW.

Kostenbetrachtung ist unerlässlich

In einem Ausschnitt sollen hier die Kosten von DSM am Beispiel der Chlor-Alkali-Elektrolyse eines Chemieunternehmens betrachtet werden, wobei grundsätzlich zwischen Lastverzicht und Lastverschiebung zu unterscheiden ist. Für die variablen Kosten gehen die meisten Studien davon aus, bei einem Lastverzicht (Lastabwurf, Lastreduktion ohne Nachholmöglichkeit, load shedding) maximal den verlorenen Deckungsbeitrag für Chlor anzusetzen. Dies ist ein signifikanter Irrtum. Bei der Chlor-Alkali-Elektrolyse fallen immer drei Produkte gleichzeitig an: Chlor, Natronlauge und Wasserstoff. Eine objektive Aufteilung der Marge auf die drei Produkte ist nicht möglich, und die Preise richten sich nach der Nachfrage. Wasserstoff wird gerade in Verbundstandorten aufgrund seiner Reduktionseigenschaften für weitere chemische Reaktionen benötigt, die bei einem Stoppen der Elektrolyse kurze Zeit später ebenfalls heruntergefahren werden müssten. Chlor wird zudem nur zu einem kleinen Bruchteil direkt als solches verbraucht, es ist vielmehr der Startpunkt für viele weitere Reaktionen. Deren Produkte können eine deutlich höhere Marge als Chlor selbst erbringen. Wenn man also die vereinfachende Annahme treffen möchte, die variablen Kosten an eine Marge zu binden, dann müsste das die Marge der drei Produkte Chlor, Natronlauge und Wasserstoff sowie ihrer Folgeprodukte sein.

Erlöspotentiale durch Lastverschiebung oft überschätzt

Optimistisch werden in einer Reihe von Studien auch die variablen Kosten für Lastverschiebung (load shift), das temporäre Drosseln und spätere Nachholen der Produktion, eingeschätzt. Es wird angenommen, dass überhaupt keine Kosten anfallen bzw. die Unter-

nehmen einen Vorteil aus der Beteiligung am DSM ziehen, da sie durch günstigere Spotpreise bzw. Teilnahme am Markt für Sekundäre Regelleistung (SRL) geringere Kosten haben bzw. zusätzliche Erlöse erwirtschaften. Dies ist ein Trugschluss. Die Erlöspotenziale aus den stündlichen Preisschwankungen am Day Ahead- und Intraday-Markt werden häufig überschätzt. Zum einen sind die Preisunterschiede zwischen Tag (Peak) und Nacht (Offpeak) nicht mehr so groß und stetig wie noch vor einigen Jahren, und die früher übliche Preisspitze am Mittag ist mittlerweile aufgrund der hohen PV-Einspeisung an vielen Tagen einem Preistal gewichen. Und die Produktionsbetriebe können aufgrund der kurzen Vorlaufzeit von nur einigen Stunden, aufgrund der Auftragslage oder wegen technischer Beschränkungen häufig nicht auf Preisschwankungen reagieren. Am Beispiel der Chlor-Alkali-Elektrolysen seien die Kostenannahmen hinterfragt: Jeder Hersteller versucht, seine Anlagen optimal auszulasten, um die Stückkosten möglichst gering zu halten. Bei den Chloranlagen wird eine Auslastung von über 90 % angestrebt (und in den letzten Jahren auch erreicht). Bei solch hoher Auslastung ist ein Nachholen der Produktion kaum möglich. Pro Stunde Produktionsausfall müssten die Anlagen rechnerisch für die nächsten neun Stunden auf 100 % produzieren, und es dürften in dieser Zeit keine technischen Probleme auftreten. Umgekehrt erschwert die hohe Auslastung auch die Erbringung von negativer Regelenergie durch Chloranlagen, da bis zur Vollauslastung nur wenig Raum ist.

Betriebsfenster sind bereits optimiert

Würde man die Stromdichte erhöhen, um Produktion im Rahmen des DSM nachzuholen, erhöht sich auch der spezifische Stromverbrauch und die Effizienz sinkt. Das ist unwirtschaftlich und im Rahmen der Effizienzziele unerwünscht (Zielkonflikt zwischen Effizienz und Flexibilität). Schäden an den Membranen und Qualitätsprobleme bei der Natronlauge durch eine volatile Fahrweise verursachen weitere Kosten. Selbst wenn ein Nachholen der Produktion ohne Kapazitätslimitierung und technische Einschränkungen möglich wäre, entstünden zusätzliche Kosten durch höhere Netzentgelte für den Produzenten. Zusätzlich riskiert der Produzent auch Nachteile im Rahmen der Netzentgeltreduktion, da durch die höhere „Netzspitze“ bei gleichem Stromverbrauch die Anzahl der Benutzungsstunden (Volllaststunden) sinkt. Hier ist der Gesetzgeber gefragt, Bedingungen zu schaffen, dass die im Rahmen von DSM erzielten Netzspitzen nicht zu Kostennachteilen für den Anlagenbetreiber führen. Dieser Punkt wird im Weißbuch der Bundesregierung und im Gesetz zur Weiterentwicklung des Strommarktes zwar angesprochen, bedarf aber noch der Umsetzung in die Praxis.

Als Schlussfolgerungen sind festzuhalten

Die energieintensive Industrie kann die Energiewende durch Bereitstellung von Kapazitäten unterstützen, soweit das wirtschaftlich sinnvoll ist und den operativen Ablauf nicht grundlegend stört. Die Kosten und der Aufwand für DSM in der energieintensiven Industrie werden in den meisten Studien aber zu stark vereinfacht und deutlich unterschätzt. Das technische Potenzial für DSM in der energieintensiven deutschen Industrie liegt bei nur rund 3 GW, bedingt durch die hohe Auslastung der Anlagen und die geringen wirtschaftlichen Anreize, und damit deutlich unter den im Grünbuch angegeben Potenzialen in Höhe von 5 bis 15 GW. Um Chloranlagen in den DSM-Markt einzubeziehen, müssen echte Anreize geschaffen werden, die die tatsächlichen Kosten reflektieren.

Der Gesetzgeber steht in der Pflicht, Vorgaben zu machen, die sich nach den Fähigkeiten verschiedener industrieller DSM-Teilnehmer richten, um so Demand Side Management auf eine breitere wettbewerbliche Basis zu stellen. Und es ist festzuhalten, zwischen Flexibilität und Effizienz besteht ein Zielkonflikt: Je flexibler Industrieprozesse betrieben werden, umso mehr Effizienz geht verloren.