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Dekarbonisierung oder Deindustrialisierung ?
Bei der geplanten Verschärfung der europäischen Klimaziele zeigt sich die wachsende Kluft zwischen politischer Ambition und praktischer Umsetzbarkeit. Schon um das bestehende EU-Ziel einer Emissionsminderung von 40 Prozent bis 2030 zu erreichen, müssten alle 27 EU-Staaten ihre Klimaschutzanstrengungen ab sofort nahezu verdreifachen. 55% weniger CO2-Ausstoß, Klimazölle, Wasserstoff: Es verlangt die notwendigen Instrumente und Mittel, ohne die weder Klimaschutz noch Wachstum nach der Pandemie gelingen werden. Die Stärkung des Industrie- und Investitionsstandortes Deutschland steht auf der Tagesordnung.
Prof. Dr. Friedbert Pflüger ist Managing Partner von Bingmann- Pflüger International. Er lehrt Klima- und Energiepolitik am CASSIS, Universität Bonn, wo er das European Cluster for Climate, Energy and Resource Security (EUCERS) leitet. Pflüger gehörte in der CDU zu den Klimapolitikern der ersten Stunde. Bereits 1993 erschien von ihm: Ein Planet wird gerettet. Eine Chance für Mensch, Natur und Technik, Econ-Verlag.
Die EU-Kommission hat angekündigt, die EU wolle ihr Klimaziel erneut verschärfen: Bis 2030 sollen in der EU mindestens 55 % Emissionen (bezogen auf das Jahr 1990) eingespart werden. Bislang lautete das offizielle Ziel minus 40 %. Bei der Ankündigung des European Green Deal im November 2019 war eine Erhöhung auf mindestens 50 % angekündigt worden. Nun wurden nochmals 5 % draufgeschlagen. Dem Europäischen Parlament aber war das immer noch zu wenig: sie wollen 60 %!
Ist das realistisch? In den 30 Jahren von 1990 bis 2019 hat die EU gerade 25 % geschafft - und daran hatte die Abschaltung der mittel- und osteuropäischen (Kohle-) Kraftwerke einen wesentlichen Anteil. Nun mehr als die doppelte Reduktion in nur zehn Jahren? Würde die EU dieses Ziel erreichen, müsste Deutschland bis 2030 über 70 % weniger CO2 ausstoßen! Und: Die letzten Prozent sind die schwersten.
Kommission und Parlament müssen nun darlegen, mit welchen Mitteln und mit welchen Kosten sie dieses Ziel erreichen wollen. Und: wie wollen sie es schaffen, dass die von allen gewünschte Dekarbonisierung nicht zu einer Deindustrialisierung führt? Der Beweis, dass man ein guter Klimaschützer ist, wird nicht durch wohlfeile Ankündigungen, sondern durch konkrete Taten geliefert. Es ist verständlich, dass Politiker mit ehrgeizigen Zielen alle Kräfte mobilisieren wollen. Aber wenn die Ziele utopisch sind und aus einem tagespolitischen Überbietungswettbewerb entspringen - dann werden die Ziele nicht mehr ernst genommen, dann schwindet die Akzeptanz der Bürger: Dann könnte der klimapolitische Grundkonsens, den wir in Deutschland zum Glück (noch) haben, verloren gehen und sich eine Gegenbewegung formieren.
Um die Ziele zu erreichen, fallen neben alten Schlüsselbegriffen wie Erneuerbare Energie oder Energieeffizienz auch neue Zauberworte: Grenzausgleich-Steuer und Wasserstoff.
Klimazölle
Die EU plant, die in Deutschland beschlossene Steigerung der CO2-Preise auf ganz Europa auszuweiten. Um zu vermeiden, dass europäische Unternehmen der energieintensiven Industrien wie Stahl, Aluminium, Kupfer oder Chemie, der Automobil- und Maschinenbau im globalen Wettbewerb benachteiligt werden, plant die Kommission eine Carbon Border Tax, eine Art Klimazoll, der auf den Import außereuropäischer Konkurrenzprodukte aufgeschlagen wird. Nicht zuletzt deutsche Unternehmen, die ohnehin schon durch unsere (zu Recht) hohen Umweltstandards im globalen Wettbewerb benachteiligt sind, sollen so vor weiteren Wettbewerbsverzerrungen geschützt werden.
Ob das funktioniert? Wie soll die Höhe des Zolls für außerhalb Europas gefertigte Maschinen oder Automobile festgesetzt werden? Sie werden in hochkomplexen Lieferketten - oft übrigens mit europäischer Zulieferung - gebaut. Außerdem gibt es auch außerhalb Europas CO2- Bepreisungssysteme - wie will man das anrechnen? Man kann sich schon jetzt vorstellen, wie die WTO und internationale Schiedsgerichte sich in unendlichen Prozessen durch das Gewirr der Regelungen und Tarifsysteme quälen. Vor allem aber: Wollen wir, die wir von Export und freiem Welthandel leben, wirklich eine so einschneidende protektionistische Maßnahme? Haben wir die zu erwartenden Gegenmaßnahmen - etwa der USA- auf dem Schirm? Und was wird der Bürger sagen, wenn er, sowieso schon durch die höchsten Strompreise im internationalen Vergleich gebeutelt - für Importwaren mehr zahlen soll? Die ganze Idee ist mindestens unausgegoren, wahrscheinlich hochgefährlich. Der Kohlenstoff-Zoll ist nicht die Lösung, mit der wir Dekarbonisierung schaffen und Deindustrialisierung verhindern!
Wasserstoff
Vielversprechender ist die europäische Wasserstoff- Strategie. Brüssel hat erkannt, dass das lange propagierte Ziel All Electric unrealistisch ist und setzt nun auf eine Entfesselung verschiedenster Wasserstoff-Technologien, ein schnelles Hochfahren eines europäischen Marktes mit Nutzung der bisherigen Gasinfrastruktur. Hier nun aber steht die Bundesregierung im Weg: sie legt die Priorität allein auf “grünen”, also den aus Erneuerbaren Energien durch Elektrolyse gewonnen Wasserstoff. Mit dieser ideologischen Verengung verhindert Berlin das rasche Entstehen eines Marktes. Dem aus Dampfregulierung bzw. aus Pyrolyse gewonnenen Wasserstoff, der fast überall in der Welt zur Lösung dazu gehört, wird bei uns nur eine Randrolle zugeschrieben. Zwar räumt Berlin ein, dass an den Grenzen Deutschlands keine Energie-Zöllner stehen würden, um bestimmte Wasserstoffe “abzuweisen”. Aber alle staatliche Förderung geht nach dem Willen der Bundesregierung nur in “grünen” Wasserstoff. Wenn das Hauptziel die Abwendung des Klimawandels ist, dann muss eine rasche Skalierung und damit einhergehende Preissenkungen kommen. Wie und wo der Wasserstoff entsteht ist zweitrangig, solange die Produktion sauber ist. Hier geht die EU den richtigen Weg - dem sich Berlin anschließen sollte.
Globale, nicht eurozentrische Klimapolitik!
Die EU-Kommission darf sich nicht zu einer protektionistischen Klimafestung entwickeln. Berlin muss im Zusammenwirken mit neuen Energielieferanten in Nordafrika, am Golf oder in Australien, aber auch mit traditionellen Energiepartnern wie Russland oder Norwegen - seine Wasserstoff-Strategie ideologisch entrümpeln.
Brüssel und Berlin sollten die eurozentrische Sicht ihrer Klimapolitik überwinden. Europa wird zur Rettung des Weltklimas auch mit den größten Anstrengungen nur sehr bescheiden beitragen. Zum Vergleich: In Asien werden 17, in Europa vier Millionen Tonnen CO2 emittiert. Wir müssen tun, was realistischerweise möglich ist - aber vielleicht sollten wir Engagement und Geld stärker in globale Projekte mit größerer “Hebelwirkung” investieren: z. B. die schlimmsten “Dreckschleudern” der Welt durch moderne Kraftwerke ersetzen, die abgeholzten (Regen)Wälder mit Mammutprogrammen aufforsten und schützen, Carbon Capture Use-Lösungen skalieren und so marktfähig machen.
www.bingmann-pflueger.com
[Bingmann-Pflüger International]
Rückkehr der Gaskraftwerke Irsching 4 und 5 in den Strommarkt (im Bild Irsching Block 4): Nach sieben Jahren in der Netzreserve kehrten zum 1. Oktober zwei der modernsten, effizientesten und saubersten Gaskraftwerke der Welt zurück in den Markt. Irsching 5 hat eine Leistung von 846 Megawatt und zählt mit einem Wirkungsgrad von 59,7 Prozent zu den modernsten Gaskraftwerken Europas. Irsching 4 mit 561 Megawatt Leistung ging 2011 in Betrieb und ist mit einem Wirkungsgrad von 60,4 Prozent ebenfalls eines der effizientesten Gaskraftwerke weltweit.