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Das Europäische Hochspannungsnetz verlangt nach Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz
Das europaweit länderübergreifende Hochspannungsnetz kann durchaus als ein zentrales Nervensystem unserer Energieversorgung bezeichnet werden. Datenvolumen und Datenaustausch wachsen kontinuierlich. Ohne einen zuverlässigen Betrieb dieses komplexen Systems kann Europa nicht funktionieren.
Mit Maik Neubauer führten wir exklusiv das Gespräch zu den Herausforderungen an das Europäische Hochspannungsnetz durch Digitalisierung und Künstliche Intelligenz.
Im Zuge des weiteren Ausbaus der Erneuerbaren Energien in Europa werden die pan-europäische Koordinierung der Kapazitäten und des Engpassmanagements sowie eine schnelle Digitalisierung im Übertragungsnetz ein wesentlicher Erfolgsfaktor für das Gelingen der Energiewende sein.
Herr Neubauer, warum sprechen wir von einem Gesamtsystem „Europäisches Übertragungsnetz“?
Das gesamte europäische Hochspannungsnetz umfasst eine Leitungslänge von über 485.000 km, in das kontinuierlich elektrische Energie mit einer Nettoerzeugungskapazität von ca. 1.152.017 MW eingespeist wird. Das länderübergreifende Hochspannungsnetz kann durchaus als „Basis aller Kritischen Infrastrukturen“ auf unserem Kontinent bezeichnet werden. Ohne einen zuverlässigen Betrieb dieses komplexen Systems kann Europa als Wirtschaftszone nicht funktionieren.
In der allgemeinen Betrachtung der Systemsicherheit und vor allem bei der Diskussion der Energiewende in Deutschland wird der Blick auf das Gesamtsystem „Europäisches Übertragungsnetz“ jedoch noch zu oft ausgeblendet, um die Komplexität in den politischen Argumentationen zu reduzieren.
Was macht dieses Gesamtsystem so komplex, aber zugleich fragil?
Um die grundlegende Komplexität des Europäischen Hochspannungsnetzes zu erfassen, reicht ein kurzer Blick auf die offizielle Übersichtskarte des europäischen Verbands der Übertragungsnetzbetreiber, des European Network of Transmission System Operators for Electricity (ENTSO-E). Diese Infrastrukturlandkarte dokumentiert die wesentlichen Hochspannungsleitungen ab 220 kV, Erzeugungseinheiten ab 100 MW sowie die energietechnischen Verbindungen zwischen den europäischen Staaten. Insbesondere neue Seekabelverbindungen zwischen den Anrainerstaaten an der Nord- und Ostsee sowie die Seekabeltrassen zur Anbindung der großen Offshore- Windparks in den norddeutschen, niederländischen, belgischen, englischen und skandinavischen Küstenregionen ergänzen das bereits hochkomplexe technische System.
Die in ENTSO-E organisierten Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) sorgen für das Management der nationalen Hochspannungsnetze sowie die Bereitstellung von über 430 Grenzkuppelstellen für die Verbindung der Hochspannungsnetze zwischen den Nationalstaaten. Diese Verbindungen spannen zum einen das physische Transportnetz über den gesamten europäischen Kontinent auf, zum anderen ermöglichen sie den internationalen Großhandel mit Strom, der sowohl bilateral zwischen Erzeugern und der Industrie, als auch über börsliche sowie außerbörsliche Handelsplattformen organisiert wird.
Obwohl das Europäische Verbundnetz eine der komplexesten Infrastrukturen der Welt ist, kam es bislang kaum zu nennenswerten Blackoutsituationen. Dies ist der seit Jahrzehnten erprobten und eingespielten Zusammenarbeit der europäischen Übertragungsnetzbetreiber zu verdanken, deren Hauptaufgabe es ist, die hohe Komplexität dieses Netzes rund um die Uhr zu überwachen und zu steuern.
Ist das Europäische Netz auf den Zuwachs an Erneuerbaren vorbereitet?
Die Energiewende ist ein gesamteuropäisches Projekt. Strommengen, die bspw. in Deutschland über die Offshore- Windparks der Nord- und Ostsee in das Netz gelangen, machen nicht an der Grenze halt, sie fließen auch durch die Netze unserer europäischen Nachbarn. Deshalb stehen die europäischen Netzbetreiber vor der Herausforderung, viele zusätzliche Energiequellen in das Netz und die operativen Steuerungsprozesse zu integrieren. Mit einem bisher vorwiegend nuklearen und fossilen Erzeugungsportfolio waren die täglichen Prognose- und Steuerungsprozesse für eine optimale Auslastung und Ausbalancierung des europäischen Netzes relativ deterministisch durchzuführen.
Mit dem deutschen Ausstieg aus der Nuklearenergie bis 2022, dem geplanten Kohleausstieg sowie dem rapiden Ausbau der Windenergie müssen sich die Übertragungsnetzbetreiber auf eine stark volatile Einspeisesituation einstellen. Um den weiter steigenden Ausbau der Erneuerbaren Energie und deren Integration in die Netze zu gewährleisten, ist neben dem Netzausbau und einer schnellen Digitalisierung der Netzsteuerungsprozesse eine verstärke europäische Koordinierung des Engpass- und Kapazitätsmanagements unabdingbar. Aus diesem Grunde wurden auch pan-europäische Regelungen für die Netzsteuerung, die sogenannten EU-Netzwerkcodes, sowie die regionalen Sicherheitskoordinatoren (Regional Security Coordinators, RSC), wie TSCNET Services in München, Coreso in Brüssel oder das Nordic RSC in Kopenhagen, etabliert.
Welche Aufgabe haben diese Sicherheitskoordinatoren?
Die europäischen Sicherheitskoordinatoren erhalten täglich von fast allen europäischen Netzbetreibern Datenmengen, welche die zu erwartenden nationalen Netzsituationen in den nächsten Stunden und Tagen widerspiegeln. Diese Informationen aggregieren die RSCs auf leistungsfähigen IT-Plattformen, um so Indikationen über mögliche Engpässe und Gefahrensituation im europäischen Netz zu erhalten, die z. B. durch Wettereinflüsse, technische Störungen oder Wartungsarbeiten entstehen können. Wir agieren somit als ‚Frühwarnsystem’ für potenzielle Gefahren im Netz, bewerten diese kontinuierlich mit unseren TSO-Partnern und können so konzertiert potenziellen Blackout-Situationen in Europa entgegenwirken.
Auch wenn seit 2006 der Ausbau der Erneuerbaren bereits ein beträchtliches Volumen in Europa erreicht hat, stehen einzelne Mitgliedstaaten erst am Anfang ihrer Energiewende. Die nächsten Jahrzehnte werden daher weitere erhebliche Wachstumsschübe und somit eine weiter steigende Komplexität und ein erhöhtes Risikoprofil im Gesamtsystem mit sich bringen. Ein Risiko, welches nur mit detaillierten Prognosedaten, einer erheblichen Anzahl von Informationssystemen sowie einer engen internationalen Abstimmung bewältigt werden kann.
Ist Digitalisierung der Schlüssel für die europäische Netzsicherheit?
Eine schnelle Digitalisierung ist meines Erachtens unabdingbar. Jede „erneuerbare“ Energiequelle muss in das Netz und in das Prognosemodell integriert werden. Dadurch steigen die Datenmengen im europäischen Netzmanagement rapide an. Das Management dieser riesigen Datenmengen, das heißt die Zusammenführung, Analyse sowie das „Zurückspiegeln“ von Engpass- und Gefahrensituationen zu den Netzbetreibern, ist eine der wesentlichen Aufgaben der europäischen Sicherheitskoordinatoren.
Ohne eine schnelle Digitalisierung, das heißt eine intelligente Integration der sogenannten OT (Operations Technology) mit der IT (Information Technology), ist ein sicheres Netzmanagement künftig kaum mehr zu leisten. Ich behaupte sogar, dass ohne einen hohen Anteil von Künstlicher Intelligenz (KI) die Komplexität in den kritischen Infrastrukturen wie Strom-, Daten und Kommunikationsnetzen mittelfristig durch den Menschen nicht mehr beherrschbar sein wird.
Also wächst die Bedeutung von KI?
Auch wenn die Anwendung von KI im gesamten Energiesektor noch in den Kinderschuhen steckt und die tendenziell konservative Energiewirtschaft den globalen IT-Trends eher hinterherläuft, wird KI auch diese Branche in den nächsten zehn Jahren radikal verändern. Auf den Energiemärkten und im Netzmanagement wird KI ihren unwiderruflichen Einzug halten. Schon heute handeln „Algos“ und spezielle Programme selbsttätig an den Energiebörsen, um bei hoher Marktvolatilität entsprechend schnell reagieren zu können. Im Infrastrukturbereich wird KI hauptsächlich dort Anwendung finden, wo große Datenmengen in kurzer Zeit analysiert werden müssen, um wichtige Entscheidungen im operativen Netzmanagement zu treffen. Leistungsfähige Algorithmen werden historische Daten über Netzsituationen mit der aktuellen Lage in Sekundenbruchteilen vergleichen, um den Verantwortlichen Empfehlungen für Redispatch- Maßnahmen oder sonstige Handlungen in Notfallsituationen geben zu können. In Blackout-Situationen werden KI-Programme das Wiederanfahren von Netzsegmenten proaktiv unterstützen oder im Vorfeld bei der täglichen Netzanalyse in Echtzeit auf Risiken und potenzielle Überlastungssituationen hinweisen – und das in wenigen Minuten für ganz Europa.
Werden „Roboter“ künftig das Netzsystem beherrschen?
Die immer wieder geäußerte Befürchtung, dass KI-Programme die Kontrolle über kritische Infrastrukturen übernehmen werden, ist keine Fiktion mehr. Es wird in ein paar Jahren Realität sein, da der Mensch mit der Komplexität eines integrierten Gesamtsystems, bestehend aus vielen verschachtelten Infrastrukturebenen, schlicht überfordert wäre.
Wenn aber die Steuerung von kritischer Infrastruktur durch KI schon bald Wirklichkeit wird, muss sie zugleich mit der Schaffung entsprechender Management- und Sicherheitsstrukturen durch den Menschen beeinflussbar bleiben. ITSicherheit und Cybersecurity werden dabei Schlüsselfelder sein, um die Entwicklungen in der Künstlichen Intelligenz abzusichern und hochkritische Infrastrukturen wie Stromoder Kommunikationsnetze vor Missbrauch oder sogar Terrorismus zu schützen. Am 19. Februar hat die EU-Kommission ihre Strategie für ein digitales Europa vorgestellt und dabei ihre europäische Datenstrategie und politische Optionen für die Entwicklung der künstlichen Intelligenz (KI) konkretisiert. Dies wird eine wichtige Plattform für die weitere Entwicklung auch im Hinblick auf das europäische Hochspannungsetz sein.