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Kategorie: Wirtschaftsfaktor Energie
Das Europäische Hochspannungsnetz – ein zentrales Nervensystem
Das europaweit länderübergreifende Hochspannungsnetz kann durchaus als „Basis aller Kritischen Infrastrukturen“ auf unserem Kontinent bezeichnet werden. Ohne einen zuverlässigen Betrieb dieses komplexen Systems kann Europa nicht funktionieren. In der allgemeinen Betrachtung der Systemsicherheit wird der Blick auf das Gesamtsystem „Europäisches Übertragungsnetz“ jedoch oft noch ausgeblendet.
Alle relevanten Infrastrukturebenen wie Gas- und Wasserversorgung, Telekommunikation und das Internet mit seinen vielfältigen Anwendungsbereichen benötigen kontinuierlich elektrische Energie. Die immer stärkere Integration und Interaktion verschiedener Infrastrukturebenen rückt den Schutz von Kritischen Infrastrukturen zunehmend in den Fokus von Regierungen und internationalen Konzernen. Was macht das Gesamtsystem „Europäisches Übertragungsnetz“ so immens wichtig, aber auch so enorm komplex und fragil?
Ohne eine hinreichende Versorgung mit Elektrizität käme unser hochintegriertes Mobilitäts-, Logistik- und Wirtschaftssystem innerhalb kurzer Zeit aus dem Gleichgewicht. Selbst Stromausfälle in kleineren Netzgebieten können Auswirkungen auf benachbarte Regionen haben und über Dominoeffekte weitere, großflächigere Probleme auslösen. Die katastrophalen Auswirkungen von Stromausfällen und potenziellen Kettenreaktionen im Europäischen Stromnetz hat der Romanautor Marc Elsberg in seinem internationalen Bestseller „Blackout“ sehr realitätsnah dargestellt.
Der Autor fokussiert dabei auf die hohe Fragilität und technische Angreifbarkeit des Gesamtsystems, hervorgerufen durch die zunehmende Digitalisierung sowie eine immens hohe Komplexität aufgrund einer kaum noch zu überblickenden Integrationsdichte der Infrastrukturebenen. Das elementare Zusammenspiel zwischen Stromerzeugung und Stromverbrauch, um das Netz über tausende von Kilometern in Europa stabil zu halten, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch.
Die Anfänge der Digitalisierung
Das weitverzweigte europäische Hochspannungsnetz kann ohne Übertreibung als das zentrale Nervensystem unserer Staatengemeinschaft bezeichnet werden. Ohne ein reibungslos funktionierendes Übertragungsnetz, das 365 Tage im Jahr und 24 Stunden am Tag Energie für über 500 Mio. EU-Bürger, unzählige Institutionen, öffentliche Einrichtungen sowie die gesamte Wirtschaft in den derzeit 28 Mitgliedstaaten bereitstellt, kann Europa nicht funktionieren. Ein Stromausfall in Teilen Europas würde innerhalb weniger Stunden fatale Auswirkungen auf die politische Stabilität, die Sicherheit in der Gesellschaft sowie die moderne Arbeitswelt haben.
Mit der Gründung des ersten europäischen Verbands der Übertragungsnetzbetreiber, der Union of the Cooperation of Transmission of Electricity (UCTE), begann die Standardisierung von Datenformaten und Informationen, die zwischen den Netzbetreibern ausgetauscht werden. Auch strukturell wurde zunehmend zwischen Energieerzeugung, -transport- und -verteilung sowie Energiehandelsaktivitäten unterschieden. Diese Tendenzen mündeten später in die gesetzlich vorgeschriebene Entflechtung von Energiekonglomeraten in ganz Europa, um Monopol- und Oligopolgewinne zu unterbinden.
Datenvolumen und Datenaustausch wachsen kontinuierlich
Mit der Separierung der Wertschöpfungsstufen in der Energiewirtschaft wurde auch der Austausch operativer Daten über den Zustand der Übertragungsnetze immer relevanter, um Netzengpässe zu identifizieren und zu vermeiden. Der grenzüberschreitende Handel von Elektrizität entwickelte sich sehr schnell und führte sowohl zeitlich als auch energietechnisch zu stark schwankenden Lastflüssen im europäischen Verbundnetz.
Um die grundlegende Komplexität des Europäischen Hochspannungsnetzes zu erfassen, reicht ein kurzer Blick auf die offizielle Übersichtskarte des europäischen Verbands der Übertragungsnetzbetreiber, des European Network of Transmission System Operators for Electricity (ENTSO-E), der mit der Inkraftsetzung des dritten europäischen Energiemarktpakets im Jahre 2008 seine Arbeit aufnahm.
Die Transmission System Map dieses Verbands dokumentiert die wesentlichen Hochspannungsleitungen ab 220 kV, Erzeugungseinheiten ab 100 MW sowie die energietechnischen Verbindungen zwischen den europäischen Mitgliedstaaten. Insbesondere neue Seekabelverbindungen zwischen den Anrainerstaaten an der Nord- und Ostsee sowie die Seekabeltrassen zur Anbindung der großen Offshore-Windparks in den norddeutschen, niederländischen, belgischen, englischen und skandinavischen Küstenregionen ergänzen das bereits hochkomplexe technische System.
Management für europäische Hochspannungsnetze
Ein Satellitenblick aus dem All zeigt ein engmaschiges, komplexes Gebilde mit Komponenten wie Überlandleitungen, Untergrundkabeln, Kraftwerken verschiedenster Art, Umspannwerken, Grenzkuppelstellen sowie Seekabeln zur marinen Verbindung von Nationalstaaten, aber auch zur Anbindung von neuen Offshore-Windparks. Hunderte von Koordinations- und Netzmanagementzentren sorgen 24 Stunden am Tag für eine reibungslose Zusammenarbeit der nationalen Übertragungsnetze auf Höchst- und Hochspannungsebene im internationalen Verbund.
Ohne diese Koordinationsstellen bei den europäischen Netzbetreibern, aber auch ohne die Zusammenarbeit mit den in den vergangenen Jahren etablierten regionalen Koordinierungszentren, wäre Europa nicht funktionsfähig und Blackout-Situationen könnten die Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme innerhalb weniger Stunden zum Erliegen bringen. Ein effizientes und sicheres Management der europäischen Hochspannungsnetze unterliegt daher auch einem besonderen Interesse der Europäischen Kommission, die mit immer neuen regulatorischen Vorgaben Einfluss auf die nationalen Netzbetreiber, aber auch auf die internationale Koordination von Sicherheitsmaßnahmen sowie den Netzausbau im Rahmen der europäischen Energiewende nimmt.
Aktuelle Herausforderung für die europäischen Stromautobahnen
Der rapide Ausbau der Erneuerbaren stellte die europäischen Netzbetreiber vor die Herausforderung, diese neuen Energiequellen in das Netz und die operativen Steuerungsprozesse zu integrieren. Mit einem bisher vorwiegend nuklearen und fossilen Erzeugungsportfolio waren die täglichen Prognose- und Steuerungsprozesse für eine optimale Auslastung und Ausbalancierung des europäischen Netzes relativ deterministisch durchzuführen. Die tägliche Nettoerzeugung aus den konventionellen Energiequellen konnte mit einer sehr hohen Genauigkeit prognostiziert und somit der Kraftwerkseinsatz entsprechend der zu erwartenden Verbrauchskurve für den Folgetag dimensioniert werden.
Mit der steigenden Anzahl erneuerbarer Erzeugungsquellen aus Wind-, Solar-, Wasseroder Biomassekraftwerken haben sich die Übertragungsnetzbetreiber auf eine stark volatile und zeitlich fluktuierende Einspeisesituation einzustellen. Jede neue Erzeugungsquelle muss in das Netz und in das Prognosemodell integriert werden. Dadurch steigen die Datenmengen für das Netzmanagement. Auch wenn seit 2006 der Ausbau der Erneuerbaren bereits ein beträchtliches Volumen in Europa erreicht hat, stehen einzelne Mitgliedstaaten erst am Anfang ihrer Energiewende. Die nächsten Jahrzehnte werden daher weitere erhebliche Wachstumsschübe, somit eine weiter steigende Komplexität und ein erhöhtes Risikoprofil im Gesamtsystem mit sich bringen. Dieses Risiko kann nur mit detaillierten Prognosedaten, einer erheblichen Anzahl von Informationssystemen sowie einer engen internationalen Abstimmung bewältigt werden.
Steigende Ansprüche an Netzüberwachung und Prognose
Die Energiewende darf dabei nicht isoliert als deutsches Projekt, sondern muss gesamteuropäisch gesteuert werden. Strommengen, die bspw. in Deutschland über die Offshore- Windparks der Nord- und Ostsee in das Netz gelangen, machen nicht an der Grenze halt, sondern belasten täglich auch die Netze unserer europäischen Nachbarn. Ein europäisch koordinierter Netzausbau ist somit – neben den bereits aufgesetzten regionalen Sicherheitskooperationen der Netzbetreiber – ein wichtiger Baustein der Energiewende. Dieser europäische Netzausbau wird über ENTSO-E in Brüssel in einem langfristigen Netzausbauplanszenario geplant und begleitet.
Durch die großflächig eingeleitete Energiewende und dem damit verbundenen Systemwechsel in der Erzeugung steigen die Ansprüche an eine kontinuierliche Netzüberwachung, die Qualität der Prognosemethoden sowie einen schnellen und koordinierten Netzausbau rapide an. Diesen Wandel müssen Politik, Regulatoren und Netzwirtschaft aktiv begleiten, womit durch die Umsetzung des 3. Energiemarktpakets bereits proaktiv begonnen wurde. Wichtig sind in diesem Kontext die Implementierung der EU-Netzwerkcodes und die Etablierung regionaler Sicherheitskoordinatoren, den Regional Security Coordinators (RSCs), wie TSCNET Services in München, Coreso in Brüssel oder das Nordic RSC in Kopenhagen.
Grundlage des Beitrages ist eine Veröffentlichung des Autors in Utility 4.0, Springer Verlag 2019
Anfragen an den Autor: m.neubauer@tscnet.eu
ENTSO-E, das europäische Netz der Übertragungsnetzbetreiber, vertritt 43 Übertragungsnetzbetreiber (TSOs) aus 36 Ländern in ganz Europa. ENTSO-E wurde 2009 durch das dritte EU-Legislativpaket für den Energiebinnenmarkt eingerichtet und verfügt über gesetzliche Mandate, die auf eine weitere Liberalisierung der Gas- und Strommärkte in der EU abzielen.