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27.09.2018 15:40 Alter: 6 yrs

compactLine – Neue Generation der Netzübertragung

Das Thema Netzausbau steht ganz oben auf der energiepolitischen Agenda: Durch die Integration der erneuerbaren Energien ist der Bedarf am Ausbau von Netzen deutlich gestiegen. Jedoch ist die Akzeptanz für den weiteren Netzausbau in der Öffentlichkeit begrenzt und führt oft zu langen Genehmigungsprozessen für neue Bauvorhaben.   Konventionelle Freileitungssysteme sind effizient und zuverlässig, werden aber unter anderem wegen ihres Einflusses auf das Landschaftsbild kritisiert. Eine Lösung ist die Entwicklung von kompakten Freileitungssystemen.   Jetzt haben der Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz und der Multitechnik-Dienstleister SPIE Deutschland & Zentraleuropa mit einem Projektkonsortium eine 380-kV-Pilotstrecke mit reduzierter Trassenbreite und Masthöhe ans Netz gebracht. Eine Innovation, die den Netzausbau in den Kontext der Leitbilder der Raumentwicklung setzt.


Dr. Frank Golletz, (Foto links) Technischer Geschäftsführer 50Hertz Transmission GmbH und Ralf Schlosser, Leiter Geschäftseinheit Leitungsbau bei SPIE Deutschland & Zentraleuropa informieren exklusiv in THEMEN|:magazin über diese Innovation im Netzausbau.

Foto: 50Hertz/SPIE

Herr Dr. Golletz, warum hat 50Hertz die Innovation compactLine angestoßen?

Circa 40 Prozent der gesamten in Deutschland installierten Windkraftleistung speisen heute in das Übertragungsnetz von 50Hertz ein. Die meisten Windmühlen stehen dabei im Norden Deutschlands, während die größten Abnehmer im Süden zu finden sind. Die Leistungen zwischen Nord und Süd waren bisher vor allem für den Bedarf im Norden ausgelegt und sind nicht in der Lage, die größten regenerativ erzeugten Strommengen zu transportieren. Also haben wir uns die Frage gestellt, ob sich nicht eine leistungsstärkere Freileitung entwickeln lässt, die in die Korridore der vorhanden Leitungen passt, aber deutlich mehr Leistung übertragen kann. Technisch gesprochen: Lässt sich eine 380-kV-Freileitung entwickeln, die in eine vorhandene 220-kV-Trasse passt?

Herr Schlosser, was steht hinter der Bezeichnung compactLine?

compactLine ist die technische Neuentwicklung einer 380-kV-Freileitung in kompakter Bauweise. Weltweit gibt es derzeit keine Freileitungssysteme für die Höchstspannung, die Netzbetreiber in die Lage versetzen, höhere Übertragungskapazitäten mit vergleichsweise wenig Rauminanspruchnahme und unter Nutzung vorhandener Trassen zu realisieren. Mit der compactLine wollen wir eine Möglichkeit schaffen, sich künftigen NetzÜbertragungsaufgaben durch die Anforderungen der Energiewende zu stellen.

Dabei sind wir sehr stolz, dass wir bei der Realisierung der compactLine unsere langjährige Forschungs- und Entwicklungskompetenz einbringen konnten. Unsere Experten des unabhängigen Versuchs- und Technologiezentrums in Langen setzen sich seit vielen Jahren mit innovativen Infrastrukturlösungen und Neuerungen im Leitungsbau auseinander. So konnten wir mit der compactLine ein neu konzipiertes Freileitungssystem mit innovativem Mastdesign und Leiterseilaufhängungen schaffen, das wesentlich kompakter ist als eine herkömmliche Höchstspannungsfreileitung.

Dr. Golletz, was waren für Sie die wesentlichen Herausforderungen im Projekt?

Zunächst erst einmal haben wir unsere langjährigen Betriebserfahrungen mit Freileitungen als Maßstab angesetzt. Das heißt z. B., der Betrieb eines elektrischen Systems muss möglich sein, wenn das auf dem gleichen Mast befindliche zweite System gewartet wird. Die Verfügbarkeit der Neuentwicklung sollte genau so hoch sein, wie die von bestehenden Leitungen (> 99 %), was bedeutet, dass die Neuentwicklung genauso allen Witterungsbedingungen (z. B. Sturm, Eis, Gewitter) standhalten muss wie bisher bekannte Leitungssysteme. Darüber hinaus hatten wir uns vorgenommen, ein Design zu entwickeln und mit der Öffentlichkeit zu diskutieren, das moderner wirkt und die Chance auf höhere Akzeptanz in der Bevölkerung bietet.

Wenn Sie so wollen, haben wir den Entwicklern die Möglichkeit eröffnet, die Belange der Menschen gleich mit zu berücksichtigen. Aber um von der Entwicklung zur Pilotleitung compactLine zu kommen, brauchten wir dann noch das geeignete Projekt. Insofern sind wir froh darüber, dass wir mit der Anbindung des Umspannwerks Jessen/Nord an die Leitung Ragow – Förderstedt ein passendes Leitungsbauprojekt gefunden haben.

Herr Schlosser, welche Anforderungen wurden an das Projekt gestellt?

Das Forschungsprojekt war für uns eine äußerst spannende Herausforderung. Bildhaft formuliert, sollte eine Strom-Autobahn auf den Maßen bestehender Strom-Landstraßen geschaffen werden. Konkret bedeutet das: Die neue kompakte 380-kV-Doppelsystemleitung sollte in bestehende 220-kV-Trassen zu integrieren sein – wobei Breite und Höhe der 220-kV-Leitungen nicht überschritten werden sollten. Mit der compactLine haben wir eine Lösung entwickelt, die beides ermöglicht: Eine raumoptimierte Leitung, die sich beinahe unsichtbar in das Landschaftsbild einfügt bei zugleich hohen Übertragungskapazitäten.

Dr. Golletz, wie geht es mit dem Projekt jetzt weiter?

Die compactLine war schon in der Bauphase Ziel zahlreicher interessierter Besucher. Nach der nun erfolgten Inbetriebnahme setzt eine mindestens einjährige Monitoringphase ein, in der alle Einzelkomponenten und das Verhalten des Gesamtsystems kontinuierlich beobachtet werden. Erst wenn alle diese Tests abgeschlossen sind und in der Fachwelt alle Erkenntnisse ausgewertet wurden, könnte die Innovation compactLine andernorts zum Einsatz kommen.

Herr Schlosser, welchen Anteil hat SPIE an dem Projekt?

Die technische Realisierung der compactLine wurde durch eine von uns entwickelte und patentierte Seilaufhängung erst möglich. Mit der drastischen Reduzierung des Seildurchhangs hatten wir den Schlüssel geschaffen, Masthöhe und Trassenbreite zu reduzieren. Erreicht wurde der geringe Seildurchhang durch die Einführung von zusätzlichen, stark gespannten Stahltragseilen, an denen die Leiterseile jedes Phasenbündels angehängt sind. Die Technologie der Stahlseile war in der Seilbahn- und Brückentechnik bereits erprobt, jedoch im Leitungsbau völlig neuartig. Die Übertragung und erfolgreiche Umsetzung dieser Technologie in die Anforderungen des Leitungsbaus war daher zentraler Gegenstand des Forschungsprojekts.

Bis zur tatsächlichen Realisierung der Pilotleitung wurden Simulationen, statische Berechnungen, mechanische und elektrische Tests bis zum Eins-zu-Eins-Versuchsaufbau durchgeführt. In den Vorprüfungen konnten wir bereits im Vorfeld Fehler ausschließen, die für einen späteren Betrieb kritisch gewesen wären. Gemeinsames Ziel ist es nun, die neuartige Kompaktleitung in die Serienreife zu überführen und eine weitere Option zu konventionellen Freileitungssystemen zu bieten.

Dr. Golletz, was macht compactLine für den weiteren Netzausbau interessant?

Wir machen jetzt zusammen mit unseren Partnern einmal alle notwendigen Langzeittests. Läuft alles gut, haben wir in ein bis drei Jahren eine technische Alternative zur Hand. Die Fakten sind klar: Trassenbreite 55 Meter statt bisher 72 Meter, Höhe 32 Meter statt mindestens 52 Meter. Größere Fundamente, aber keine flächendeckenden Erdarbeiten wie bei Erdverkabelungen. Stabiler Abspannmast.

Unsere Variabilität wird größer. Wir werden aber weiter in jedem einzelnen Projekt, in jedem Leitungsabschnitt gemeinsam mit den Menschen und Interessengruppen vor Ort erörtern müssen, ob diese technische Alternative hier oder dort eine Rolle spielen kann.

Wir haben mit der compactLine gezeigt, dass es möglich ist, Freileitungen kleiner zu bauen, ohne Abstriche in wichtigen Funktionsbereichen zu machen. Das ist eine Innovation, die uns auch ein bisschen stolz macht. Aber ob compactLine im einzelnen Vorhaben mit ihrem höheren Aufwand eine technische Lösung darstellt, wird in Ansehung aller Umstände im Netzausbauprojekt festgelegt werden. Dabei spielen auch Umweltfaktoren, Trassierungsfragen und Landschaftstypen eine wichtige Rolle.

Weitere Informationen zu compactLine:

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